Friedrich Spielhagen

Essay om Et dukkehjem av Friedrich Spielhagen i Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, 49 (1880/81), s. 665-675. Essayet tar utgangspunkt i Wilhelm Langes tyske oversettelse av stykket, utgitt på Reclam i Leipzig i 1880, og oppsetningen på Residenz-Theater i Berlin med Hedwig Niemann-Raabe som Nora.

Henrik Ibsens Nora.

Von

Friedrich Spielhagen.

«Mag Henrik Ibsens Name zur Stunde noch wenig außerhalb der Grenzen seiner nordischen Heimath genannt werden, die Zeit kann nicht mehr fern sein, wo der Ruhm des Dichters, der nach mancherlei verfehlten Anläufen schließlich so meisterhaft die höchsten Gesetze der Kunst zu erfüllen versteht, über die fernsten Länder erschallen wird.»

Ich will nicht behaupten, daß dies Wort des trefflichen, zu früh verstorbenen Adolf Strodtmann aus dem Jahre 18731 heute bereits buchstäblich in Erfüllung gegangen ist oder jemals gehen wird; daß es aber, für Deutschland wenigstens, dazu einen starken Ansatz nahm, mußte Jeder einräumen, der sich im Frühling des vergangenen Jahres in der Berliner Gesellschaft bewegte.

Nicht bloß in der specifisch literarischen. Wohin man kam in jedem der Kunst und Literatur holden Salon überall fand man mitten zwischen den illustrirten Prachtbänden jenes unscheinbare gelbe, «für zwanzig Pfennige einzeln käufliche» Heftchen No. 1257 der Reclamschen Universalbibliothek mit dem Titel: «Nora. Schauspiel in drei Aufzügen von Henrik Ibsen. Deutsch von Wilhelm Lange»; und man konnte mit ziemlich sicherer Chance des Gewinnens eine Wette darauf eingehen, es werde innerhalb der nächsten Viertelstunde von irgend einer schönen oder nicht schönen Lippe der klangvolle Name der Heldin des Schauspiels ausgesprochen werden und sich daran sofort eine lebhafte Discussion knüpfen, deren Ende nicht leicht abzusehen war. Ja, mit der Lebhaftigkeit war es meistens nicht gethan; oft genug steigerte sich dieselbe zu einer eben nur noch durch die gesellschaftliche Sitte verhüllten Leidenschaftlichkeit, als handele es sich um Freihandel oder Schutzzoll, Mozart oder Wagner. Und in diesen oder ähnlichen heiklen Fragen habe ich doch selbst erhitzte Gegner manchmal schließlich zu einer Art von Verständigung gelangen, zum mindesten ein Compromiß schließen sehen. In der Nora-Frage gab es keine Verständigung, kein Compromiß. Schwarz blieb schwarz und weiß blieb weiß und damit basta!

Allerdings nur für den Punkt, um den sich die Debatte einzig und allein gedreht hatte und der immer derselbe und völlig unverrückbar war: nämlich das in dem Schauspiel aufgeworfene ethische Problem. Die ästhetische Seite der Frage, das Kunstwerk, der dramatische Werth der Dichtung darüber ging man sofort zu der bewußten Tagesordnung über, nachdem man zuvor einstimmig und ohne Debatte decretirt, erstens: daß an der ungeheuren theatralischen Wirkung des Stückes nicht zu zweifeln sei; zweitens: daß es in Deutschland nur eine Künstlerin gebe, welche die Titelrolle spielen könne, und das sei Frau Hedwig Niemann-Rabe.

Ich weiß, es klingt wie nachträgliche billige Ruhmredigkeit und doch ist es die lautere Wahrheit: ich hatte vielleicht nicht vom ersten Moment an, aber nach wiederholter sorgfältiger Lectüre des Buches starke Bedenken gegen die unbedingte Richtigkeit der ersten These, und nicht zum wenigsten deshalb, weil ich mich voll und ganz zu der zweiten bekannte. Ich sagte mir doch das gehört an eine andere Stelle; ich bitte den Leser, mir freundlich in der Relation dessen weiter zu folgen, was ich um mit dem gelehrten Verfasser der griechischen Literaturgeschichte, Bernhardy, zu reden die «äußere» Geschichte Noras nennen möchte.

Das Stück, das in unseren und sicher in unzähligen anderen Kreisen eine so große Sensation hervorgerufen, hatte endlich aufgehört, bloßes Buchdrama zu sein. Es war aufgeführt worden: in München, dann in Frankfurt, und der Erfolg war kein sensationeller gewesen. Im Gegentheil: an dem ersteren Orte waren nur die beiden ersten Acte von einem noch dazu nicht einmal unbestrittenen Erfolge begleitet worden, der dritte hatte bis zur Verstimmung befremdet. Noch schlimmer lauteten die Nachrichten aus Frankfurt: es schien, als habe man die große Novität, Alles in Allem, abgelehnt. Die Berliner Nora-Schwärmer ließen die Köpfe hängen nur ein wenig. Gab es doch in Deutschland nur eine Künstlerin u. s. w. und die hatte doch nun eben weder an der Isar noch am Main gespielt. Die saß noch immer in Berlin oder es war inzwischen Sommer geworden an dem schönsten Punkte einer schönen Gegend und studirte Nora, immer Nora; und wenn die Zeit erfüllet und die geniale Frau mit ihrem Studium zu Ende wäre, und nun endlich, endlich «die vorletzte Scene im zweiten Acte, wissen Sie, wo sie die Tarantella tanzt, während» «Ich weiß, ich weiß: es muß grandios werden!» und die beiden Eingeweihten überrieselte ein Schauer des Entzückens bei der Vorahnung des Genusses, der ihrer harrte.

Und nun war es den Hamburgern vergönnt, vor uns dieses Genusses theilhaftig zu werden; und am Ende konnte man sich so sehr nicht darüber wundern. Ja, wenn es sich um Soll und Haben, Austern und Trüffeln gehandelt hätte! Aber Nora! was versteht der Hamburger von Nora, und wenn sie ihm eine Hedwig Niemann-Rabe vorspielt!

Das war nun gewiß sehr ungerecht gegen die braven Hamburger, aber es war verzeihlich; ein grimmiger Ausfall gleichsam der hart und immer härter bedrängten, durch die Nachrichten aus Hamburg fast zur Verzweiflung getriebenen Nora-Enthusiasten. Denn diese Nachrichten lauteten nicht oder doch kaum anders als die aus München und Frankfurt, besonders wenn man sie nicht aus den Zeitungsberichten las, sondern im vertraulichen Gespräch von denen, welche der Vorstellung beigewohnt, an Ort und Stelle einsammelte, wie ich es in der Lage war, als ich, von einem Nordseebade zurückkehrend, Ende September durch Hamburg kam. Natürlich war das Stück «höchst bedeutend»; natürlich hatte Frau Niemann «ganz ausgezeichnet» gespielt, aber man kam nicht recht mit der Sprache heraus, auf deutsch: man wußte nicht recht, wie man sich zu dem wunderlichen Dinge stellen sollte.

Wir werden es wissen, sagten die Berliner Enthusiasten.

Ich sagte es nicht.

Der hochverehrte Freund und College, neben den mich bei der ersten Aufführung von Nora im Residenztheater ein glücklicher Zufall brachte, kann es mir bezeugen. Es ist seine löbliche Gewohnheit, ein Stück, das er nachträglich besprechen muß,2 nicht vorher aus dem Buche, sondern erst von den Brettern herab kennen zu lernen, und er hatte auch diesmal über den hochgehenden Wogen der Nora-Discussionen den kritischen Kopf frei erhalten. So durfte ich ihm denn in den Minuten vor dem Aufgehen des Vorhanges eine kurze Analyse des Stückes geben, welche sich, fürchte ich, bei der Unruhe um uns her und bei der Unruhe in mir selbst durch transparente Klarheit gerade nicht auszeichnete. Dafür sprach ich ganz klar und rückhaltlos meine Besorgniß aus, es werde der Abend nicht halten, was er oder was sich die Nora-Enthusiasten von ihm versprochen; es werde mutatis mutandis in Berlin gehen, wie es in München und Hamburg gegangen.

Und nachdem ich nicht aus Furcht vor dem nachbarlichen kritischen Kopf, sondern einfach der bangen Stimme in mir folgend meine arme Seele so salvirt, glaubte ich wirklich auf Alles, was kommen würde, gefaßt zu sein.

Ich hatte mich doch getäuscht; ich hatte doch im Stillen gehofft, es werde dessen, was hier unter so exceptionellen Umständen und Verhältnissen sich nothwendig verändern müsse, mehr viel mehr sein.

Ich spreche nicht von dem Spiel der Frau Niemann, überhaupt nicht von der Darstellung darüber soll weiter unten geredet werden. Ich spreche von dem Publikum und der Aufnahme, welche das Stück fand. Das Publikum war wohl fraglos das beste, welches Berlin für solche Gelegenheiten zu stellen hat ein nicht durchweg, aber in seiner Mehrheit hochgebildetes, durch Nachdenken und Uebung in dramatisch-theatralischen Sachen wohlgeschultes, Alles in Allem leicht empfängliches, ja bis zum Enthusiasmus entzündliches Publikum. Und welche Aufnahme gewährte es Nora? dem viel besprochenen, längst erwarteten, heiß ersehnten Stück, zu dessen Première es aus allen Enden der Stadt herbeigekommen war und das kleine Theater bis auf den letzten Platz gefüllt hatte?

Eine laue Aufnahme, oder eine, deren Temperatur beträchtlich unter den hochgespannten Erwartungen blieb? Das wäre für den Nora-Schwärmer gewiß schon recht betrübsam gewesen. Aber es kam viel, viel schlimmer. Es ist das schwer zu beschreiben. Man muß es eben selbst erlebt, an seinen eigenen Nerven durchgemacht und sympathisch durchgelitten haben: diese sonderbare Unruhe, welche, erst ganz vereinzelt, ganz leise, hier und da in dem Hause entstehend, aus dem Hause aufsteigend, sich nur dem feineren, argwöhnischeren Ohre bemerklich macht, dann größere Kreise ergreift, wieder zu entschlummern scheint, um plötzlich in dem ganzen Publikum auf einmal zu erwachen aber nun nicht mehr als schüchterner individueller Zweifel, dem Nachbar flüsternd mitgetheiltes Bedenken, sondern als souveräne, mißbilligende, verurtheilende vox populi. Und dann jenes grausame, kaum unterdrückte Lachen an einer Stelle, auf deren tieftragisch ergreifende Wirkung der Enthusiast gebaut hatte wie auf einen Felsen, bis er zu seinem Entsetzen bemerkt, daß unter jenem dämonischen Lachen der Granit sich in verstiebenden Wüstensand verwandelt es war ein böser Abend, fast so bös, als wäre Einem selbst ein Stück durchgefallen.

Ich hatte, als ich nach Hause fuhr, die bestimmte Empfindung, daß Nora durchgefallen; wenn es hoch kam, einen succès destime erzielt hatte, den man dem Fleiß und dem Talent des Autors nicht versagen konnte.

In den folgenden Tagen schlichen die Nora-Enthusiasten verstimmt umher, und die nun erscheinenden Kritiken waren nicht dazu angethan, den gesunkenen Muth zu heben. Von denen, welche mir zu Gesicht kamen, ging die der «Gegenwart»3 am schärfsten mit dem Stücke ins Gericht und dazu noch in einer anderen als der rein bildlichen Bedeutung. Der ingeniöse Verfasser hatte den neckischen Einfall gehabt, das Sujet des Stückes als «Fall Nora contra Helmer» (Urkundenfälschung unter eigenthümlichen Umständen) in die Form eines regelrechten Berichts aus dem Gerichtssaal zu bringen, um daran eine eigentliche kritische Besprechung zu knüpfen, in welcher er seine der meinigen völlig entgegenstehende Ansicht mit so viel Geist und Folgerichtigkeit darlegte und begründete, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihm auf der Stelle brieflich für das Vergnügen zu danken, welches er mir durch seine Kritik bereitet, mit der Hinzufügung: «Sie haben mich beinahe völlig überzeugt.»

Ich mußte wohl sehr deprimirt sein; so, wie es ein Advocat sein mag, der seinen Clienten ehrlich für unschuldig hält und hofft, daß er es werde beweisen können, und vor dem nun sein schlagfertiger beredter Gegner ein Bild des armen Sünders enthüllt, so schwarz, so aller Gnade bar, daß er, als der Mann mit einem letzten erschütternden Appell an das Gerechtigkeitsgefühl der Richter und der Geschworenen endet, bei sich spricht: Beim Himmel, der Mann hat mich beinahe völlig überzeugt!

Beinahe, das heißt: nur zum Theil, das heißt: nur halb, das heißt: ganz und gar nicht.

Und der Advocat neigt sich zu seinem Clienten und flüstert ihm zu: die Sache stehe allerdings in diesem Augenblicke nicht gut für ihn, aber er (der Advocat) hoffe noch immer das Beste; jedenfalls wolle er sehen, was sich thun lasse.

In der That glaube ich, daß in Sachen Nora, trotz Allem, was schon darüber gesagt und geschrieben, noch sehr viel zu thun ist.

Ich will es hier versuchen.

Zuvor eine Bemerkung.

Ich erlaube mir, die Bekanntschaft des Stückes, wenn nicht von der Bühne, so doch aus der Lectüre des Buches, bei dem Leser vorauszusetzen. Anderenfalls muß ich ihn freundlichst ersuchen, bevor er weiterliest, das Versäumte nachzuholen. Und daß ihn die wenige Zeit und Mühe, welche ihn das kostet, nicht gereuen wird, kann ich ihn auf das bestimmteste versichern.

Und nun zur Sache.

Es ist eine immer wiederkehrende Klage, daß unsere modernen Dramen nur zwangs- und deshalb unpassenderweise in dialogische Form gebrachte Novellen und Romane sind. Diese Klage ist nur zu oft gerechtfertigt. Und zwar aus einem Grunde, welcher fast so triftig und zureichend ist wie der, warum ein Kameel oder meinetwegen ein Schiffstau nicht durch ein Nadelöhr geht. Ich sage: fast; denn ich will angesichts gewisser Beispiele, die denn doch stark dafür zu sprechen scheinen, die Möglichkeit der Entstehung von Vollblutsdramen auch heutigen Tages nicht in Abrede stellen; aber ich glaube, außer bei unseren jugendlichen dramatischen Heißspornen, kaum auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich behaupte, daß dieser Entstehung ein Umstand widerstrebt, der die Chance des glücklichen Vollbringens verschwindend klein macht. Dieser Umstand ist die veränderte Beschaffenheit unseres geistigen Auges, welches dramatisch zu sehen so gut wie verlernt hat; dieselbe Beschaffenheit, aus welcher Wilhelm von Humboldt die nothwendige Genesis der sentimentalen Dichtkunst bei den modernen Menschen deducirt im Gegensatz zur naiven der Alten.

Welches ist diese Beschaffenheit?

Die, daß wir, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht mehr mit dem natürlichen Auge, sondern immer gleichsam durch ein Mikroskop schauen und so ein unendlich Mannigfaltiges überall erblicken, wo jenes nur ein höchst Einfaches zu sehen glaubte, vielmehr in seiner Weise wirklich sah ein Einfaches, welches in seiner Bruchlosigkeit und leichten Uebersichtlichkeit der künstlerischen Auffassung und Verwerthung auf halbem Wege entgegenkam. Auf diesem einfachen Sehen oder diesem Sehen des Einfachen beruht aber eben die naive Kunst und beruht die dramatische Kunst, mit der allein wir es hier zu thun haben. Für den Dramatiker gilt, was für den römischen Prätor galt: Minima non curat. Wehe ihm, wenn ihm das Drum und Dran zu sehr am gewissenhaften Herzen liegt; es ihm nicht genügt, die starke Pfahlwurzel des Menschenbaums erkannt zu haben, sondern er dem Gewirr der Triebwurzeln bis in die kleinsten und feinsten Verzweigungen und Verästelungen nachspürt! «Bohrt ihr mir einen Esel? Ich bohre einen Esel!» und die Klingen heraus und Schlag um Schlag! Das ist dramatisches Leben, das ist dramatisches Blut, wie es die Feuerseele Shakespeares füllt und durch jede Zeile, die er geschrieben, pulsirt; und von dem ein Tropfen in unser bedächtiges Blut zündend überspringt, sobald wir in seinen Zauberkreis treten, unser ganzes Wesen ergreifend und wandelnd, daß uns sein holder Wahnsinn als die einzig normale Methode erscheint, die menschlichen Dinge zu sehen und zu beurtheilen. Wer in der Welt hat je danach gefragt, wie es denn nur gekommen sein mag, daß Lears Töchter so gar verschieden arten konnten? Hatten sie verschiedene Mütter? hatten sie überhaupt eine Mutter? Sollte Edmund sein böses Gemüth durch alle die Jahre engsten Zusammenlebens so durchaus zu verbergen gewußt haben, daß er nun zuletzt den Bruder, den Vater völlig ahnungslos treffen kann? Sollte Jagos wahnsinniger Haß gegen Othello nicht noch aus einem anderen Grunde entspringen, den der Dichter nicht gekannt oder anzuführen vergessen hat? Und so in infinitum.

Aber es ist auch nur der eine Shakespeare, vor dessen Majestät dergleichen wohl aufzuwerfende Fragen ehrfurchtsvoll verstummen, mit denen wir freilich einen modernen Dramatiker gar nicht zu behelligen brauchen. Denn der gewissenhafte Mann ist bereits mit einem ungeheuren Fragekasten, den er selbst bis an den Rand gefüllt, an sein Werk gegangen; und sein Werk wird wesentlich darin bestanden haben, den ominösen Inhalt desselben Punkt für Punkt zu erledigen. Und wird nicht geruht haben, bis er über das Wo? und Wie? ein sonnenklares Licht gebreitet und das letzte kleinste Warum? aus seinem verborgensten Schlupfwinkel glücklich aufgestöbert hat. Und so lange und so eifrig und mit so feinen Werkzeugen an seinem dramatischen Bogen geschnitzelt haben, bis das Ding ihm schon unter den Händen oder doch ganz gewiß zerbricht, sobald man die bekannte fürchterliche Probe mit ihm anstellt.

Vielleicht um so sicherer zerbricht, je härter das Material war, je mehr es von der Art des Stoffes hatte, aus dem der Bogen einzig und allein geschnitzt werden kann.

Oder, um ohne Bild zu sprechen: der Widerspruch zwischen Zweck und Mittel, zwischen Intention und Ausführung wird um so greller hervortreten, um so peinlicher berühren, je tiefer der Dichter die Unversöhnlichkeit der Gegensätze, welche sich im menschlichen Leben unablässig einander bekämpfen, in dem eigenen leidenschaftlichen Herzen empfindet; je inniger er bemüht gewesen ist, diesen Kampf auf seinen einfachsten tragischen Ausdruck zu bringen, die letzten Consequenzen zu ziehen, das mitleidslose Facit rein herauszurechnen.

Alle Welt ist einig in dem überaus peinlichen Eindruck, den «Nora» auf jedes Gefühl macht, das nicht einmal zart, sondern nur gesund zu sein braucht; und dieser durchaus berechtigte Eindruck ist eben die nothwendige Folge und der subjective Ausdruck jenes verhängnißvollen, in der Sache selbst liegenden Widerspruchs.

Was hat der Dichter mit der «Nora» eigentlich beabsichtigt?

Dasselbe, was er noch mit jedem seiner Werke beabsichtigte.

«Weshalb» fragt G. Brandes in einer von Strodtmann angezogenen Stelle4 «weshalb greift Ibsen zu der wilden Tragik und dem großartigen Grausen der Völsungasage zurück, das er nur unfreiwillig und durch einen Mißgriff verringert, indem er die Heroen der Sage zu Menschen aus der späten Vorzeit herabsetzt? Um dies Bild der Gegenwart vorzuhalten, um ihr zu imponiren; um dies schwache, in Halbheit versunkene Geschlecht zu beschämen, indem er ihm die ganze Größe seiner Vorfahren weist, die Leidenschaft, welche ohne Rücksicht nach rechts und links fessellos ihrem Ziele entgegenstürmt, den Stolz und die Stärke, die karg an Worten ist, die schweigt und handelt, schweigt und duldet, schweigt und stirbt; diese Willen von Eisen, diese Herzen von Gold, Thaten, welche nach tausend Jahren noch nicht vergessen sind. Da, seht euch im Spiegel!»

Der Spiegel hängt vielleicht etwas niedriger, aber doch noch immer zwischen Himmel und Erde in dem dramatischen Gedichte «Brand»,5 das Strodtmann «eine Schöpfung» nennt, «die sich an Gedankentiefe einzig mit Goethes Faust vergleichen läßt, der es aber leider mehrfach an Klarheit und Verständlichkeit der Motive fehlt.» Ich gestehe, daß mir der Vergleich mit Faust etwas sehr gewagt erscheint; um so stichhaltiger ist der daran geknüpfte Vorwurf. Aber auch freilich nur, wenn man ihn auf die Einzelheiten bezieht; im Großen und Ganzen sind die Motive des Helden vollkommen klar und verständlich. Oder vielmehr das Motiv, denn er hat nur Eins, aus dem sein Denken und sein Handeln mit Nothwendigkeit resultirt: den energischen, durch keinen Widerspruch der stumpfen Welt, durch kein Mißgeschick, durch kein grausigstes Unglück, das ihn trifft, zu beugenden Willen, sich zu Gott durchzuringen, von dem geschrieben steht: «Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen»; und abermals: «Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.» So, in strengster heiligster Uebung des Gebotes, sorgt denn auch der Held nicht für sein Leben und nicht für seinen Leib; er sorgt nur für die Heerde, die ihm anvertraute, die stumpfe Heerde, die ihn Mutter und Weib und Kind und Alles opfern läßt, um ihn hinauszustoßen in die heulende Wildniß, wo die Schneelawine sich über ihn wälzt, aus der er, bevor sie ihn vollends begräbt, noch seinen Klageschrei zum Himmel ruft:

Gieb mir Antwort, Gott, im Sterben:
Kann uns Rettung nicht erwerben
Manneswille quantum satis ?

worauf die «Stimme von oben» antwortet:

Er ist Deus caritatis.

Man sieht, die Lösung des Räthsels ist wie bei Faust in den Himmel verlegt, weil dort, wie hier, die Erde keine zu bieten scheint. Denn wenn der Mensch irrt, so lange er strebt, und strebt, so lange er lebt, so irrt er eben, so lange er lebt, und ist aus diesem verhängnißvollen Cirkel kein Ausweg, und die bösen Pessimisten behaupten, daß eben darum das Leben selbst der Grundirrthum ist, aus dem uns nicht einmal der gemeine landläufige Tod, sondern nur jenes mystische Nirwana-Sterben erlösen kann.

Ibsen ist nun ein solcher Pessimist bis in den tiefsten Grund seiner leidenschaftlichen Seele hinein. Die Menschheit en bloc ist ihm die störrische, stumpfsinnige Masse, die noch nie auf ihre Propheten gehört, noch immer sie, die ihr Gefühl und Schauen offenbarten, in die Wildniß gestoßen oder gekreuzigt und verbrannt hat. Und die gute Gesellschaft! Daß sich Gott erbarm! wie elend muß es um sie stehen, wenn sich dies ihre Stützen6 nennen dürfen? ja, wenn sie es, in einem gewissen Sinne, wirklich sind: diese klatschsüchtigen Wohlthätigkeitvereins-Strümpfe strickenden Kaffeeschwestern, dieser salbadernde Hülfsprediger, diese bibelfesten Jobber und Fixer, dieser «Herr Consul», der sämmtliche gemeinnützige Anstalten seiner Stadt gestiftet und alle und Alles seine ganze bedeutende, beneidenswerthe, vielbeneidete Existenz auf eine Lüge basirt hat, eine grundgemeine Lüge, in die er sich selbstverständlich immer tiefer und tiefer verstricken muß, bis ihn nicht von der Intention nur von der Ausführung des niederträchtigsten feigsten Verbrechens der wunderbarste Zufall errettet, der Erschütterte in sich geht, vor der ganzen «Gesellschaft», die ihn zu feiern gekommen ist, ein stark verclausulirtes, jedenfalls sehr unvollständiges, sehr verhülltes Pater peccavi sagt und eine Besserung verspricht, an welche glauben will, wer mag.

Freilich, wie kann die Gesellschaft anders sein, wie kann sie fester stehen, wenn das Fundament, auf welchem sie sich aufbaut: die Familie, und des Fundamentes Grundstein: die Ehe, durch und durch zermürbt und verrottet sind? Oder fangen neun Zehntel dieser Ehen nicht an mit der Frage nach dem, wonach nur die Heiden trachten? Und entspricht dem unheiligen Anfang nicht die Fortsetzung bis ins Grab, bis über das Grab hinaus in der Trauer, die der betreffende Hinterbliebene zur öffentlichen Schau trägt, ohne sie innerlich zu empfinden, oder, wenn er sie momentan empfindet, zu vergessen, bevor die Schuh verbraucht? Und so gegen den Todten weiter lügt und trügt, wie er gegen den Lebenden gelogen und getrogen? Warum auch nicht? der Andere würde es genau ebenso machen; alle Welt macht es ebenso und befindet sich ganz wohl dabei, um so wohler, mit je größerer Virtuosität und Feinheit sie die Komödie spielt. Keine Komödie der Irrungen! man kennt ja hinüber und herüber die Mätzchen und Grimassen ganz genau und holt sich seine Tugendschminke und die falschen Großmuthsedelsteine aus demselben Laden! Im Gegentheil: ein Irrthum wäre nur möglich, wenn Einer auf den dummen Gedanken käme, von Zeit zu Zeit die Wahrheit sagen zu wollen, oder gar auf den erz- und urdummen, eine ehrliche Seele zu sein, eine liebevolle das geht ja denn so Hand in Hand , die sich der Wahrheit freut und der Ungerechtigkeit schon deshalb nicht, weil sie kaum eine Ahnung davon hat, was das wohl sein mag. Da kann denn freilich Irrthum, Verwirrung, ja, wenns das Unglück will, das größte Unglück nicht ausbleiben.

Setzen wir, als den wahrscheinlicheren, den Fall, daß die Frau jene dumme, ehrliche, wahrhaftige, gerechte Seele ist was wird geschehen? Vor Allem wird sie, als Frau, die robuste Kraft nicht haben, mit der wohl einmal ein ehrlicher Kerl sich seinen Weg über den Markt des Lebens bahnt; nicht die physische und nicht die geistige, um so weniger, als absolut nichts geschehen ist, ihren Geist zu entwickeln, zu formen, zu stählen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Mutter dies schwierige Geschäft hätte unternehmen können; sie wäre denn eine Auserwählte von Tausenden gewesen. Jedenfalls ist sie dem armen Kinde früh gestorben und hat es in der Obhut einer Wärterin zurückgelassen, die sich damit begnügen mußte, es groß zu ziehen, wie das ein armes, ungebildetes, beschränktes Mädchen vom Lande eben versteht und kann. Und der Vater? O, das war ein sehr geistreicher, in der Gesellschaft unendlich beliebter Mann, der natürlich für die Gesellschaft leben und viel, sehr viel Geld verdienen mußte. Und dann die Geschäfte, die langweiligen, verdrießlichen Geschäfte eines Beamten, um so verdrießlicher, als man sich seinen Vorgesetzten gegenüber durchaus nicht ganz unangreifbar weiß. Und der vielgeplagte Mann sollte die Zeit gehabt haben, sich um sein kleines Töchterchen zu bekümmern? in ihr junges, liebebedürftiges Herz Eingang zu suchen? von ihrem Herzen aus auf ihren bildsamen Verstand, ihren lebhaften Geist einzuwirken? sie die Welt sehen zu lassen durch seine klugen, ach! allzu klugen Augen? Geht doch! Die kleinen Hände sind nur da, ihm die Falten wegzustreichen von der sorgenvollen Stirn! Die böse Kassenrevision! Aber ihr Lachen ist so silberhell; laß sie lachen! mache sie lachen! lache mit ihr! Für den nöthigen Ernst wird schon das Leben sorgen, obgleich sie an der Seite des jungen, exemplarischen Mannes

O, des exemplarischen Mannes!

Oder verdiente er das schmückende Beiwort nicht, dieses Muster von einem pflichttreuen, integren Beamten, der sich den Finger abhacken würde, an dem ein Geldstück der ihm anvertrauten Gelder hangen bliebe, und wenns nur Gott im Himmel sähe! dieser Gentleman born and bred, der seine Ideen so strenge in Ordnung hält wie seine Cravatten, und seine Ehre so blank wie seine Stiefel, und der innerlich so reinlich ist wie äußerlich, daß er in der Nähe von Personen, an denen ein moralischer Makel haftet, geradezu ein körperliches Unbehagen empfindet! Und welch ein Ehemann! thut er seiner kleinen Frau nicht Alles zu Liebe, was er ihr an den Augen absehen kann? gewährt er ihr nicht jeden Wunsch, selbstverständlich, so weit seine etwas beschränkten Mittel reichen? geht seine uneigennützige Liebe zu ihr nicht so weit, daß er mit ihrer Anmuth, ihrer Schönheit förmlich vor den Leuten prunkt, richtige Parade mit ihr macht und den Beifall der Leute entgegennimmt, als habe er ihn selbst verdient? Freilich in der verschwiegenen Stille ihres traulichen Heims belohnt er sie dafür auch durch eine Zärtlichkeit, die so echt ist, daß er nach sieben vollen Jahren sie mit dem stolzen Geständniß beglücken kann: er liebe sie noch immer wie seine Braut. Und dabei welch ein Mann! macht ihn seine echte Zärtlichkeit gar nicht blind gegen die kleinen Schwächen seines Singvögelchens, seines Eichkätzchens; er ist sogar im Stande, sie ganz ernsthaft zu schelten; und selbst wenn sie große Schwächen hätte aber woher soll sie die haben an der Seite des Musters eines Beamten, Gentleman und Gatten! oder wenn sie je dergleichen gehabt, in die Ehe mitgebracht hätte, so wären sie längst evaporirt wie Nebel im Sonnenlicht an der Seite des Musters eines Beamten u. s. w., ohne daß er auch nur den Mund aufzuthun, jemals über die tieferen Fragen des Menschenlebens mit ihr zu sprechen brauchte. Offen gestanden: er hat dazu keine Zeit, und endlich: er ist doch auch kein Nachmittagsprediger oder verstaubter Philosophieprofesser, sondern das Muster eines Beamten u. s. w.

Und sie?

Sie läßt es eben geschehen. Sie hat es nie besser gekannt, und es ist ja auch, wie es ist, so gut. Alle Welt liebt sie, und sie liebt alle Welt, und sucht die Welt die kleine Welt, in der sie sich bewegt so glücklich zu machen, wie sie kann. Und «sucht» ist eigentlich ein falscher Ausdruck; sie ist sich dabei, Gott weiß es, keiner Absicht bewußt; wie die Sonne Licht spendet, weil sie licht ist, so spendet sie Liebe, weil sie liebevoll ist; und sieht sich die Menschen, denen sie Gutes und Liebes erweist, so wenig darauf an, ob sies etwa verdienen, wie die Sonne, die gleicherweise über Gerechte und Ungerechte scheint. Die Menschen nur? ach, wenn sie könnte, sie würde den Tauben die Köpfe wieder aufsetzen und sie, händeklatschend, zum offenen Fenster hinaufschicken in die sonnige Morgenluft, und die Hühner, die morgen geschlachtet werden sollen, heute wenigstens noch mit Makronen füttern. Freilich, wenn ihr aus einem Menschenantlitz die Freude, die sie bereitet, zurückstrahlt, so ist es doppelt Freude; und so giebt sie dem Träger, der fünfzig Pfennige fordert, eine Mark, und verzieht ihre Dienstboten und spielt und jubelt mit ihren Kindern, und ist ihres Gatten Eichkätzchen und Singvögelchen, weil es scheint, daß es ihn glücklich macht, wenn er an ihr ein Eichkätzchen und ein Singvögelchen hat; und die Freundinnen und Freunde, die ins Haus kommen, haben es darum nicht schlechter, besonders der gute Doctor, der so krank und oft so melancholisch ist, und dem man offenbar noch einige Extrarosen auf seinen dunklen Lebensweg streuen muß. Liebt sie den Doctor, was man in der Welt so nennt? Vielleicht, vielleicht auch nicht; sie hat nie darüber nachgedacht. Am Ende liebt sie auch nicht ihren Mann? O doch, gewiß! aber vielleicht nicht mehr als den Anderen, oder doch nur deshalb mehr, weil er «der Nächste dazu» ist. Aber ist denn diese Frau eine Idiotin ohne Verstand? oder allerhöchstens eine spielfrohe, seelenlose Undine? Nun, den Verstand der Verständigen hat sie sicher nicht, und was die Seele betrifft: wenn sie keine hat, durch die Liebe kann ihr keine werden, denn ihr ganz eigentliches Element, in dem sie lebt und webt, ist die Liebe. Aber sie hat eine Seele, eine hochgespannte, anspruchsvolle Seele, und ein furchtbarer Tag wird kommen, wo sie sich zu ihrem Entsetzen dieser Seele bewußt wird.

Gottes Mühlen mahlen langsam. Hier werden sie sieben Jahre brauchen, sieben Jahre, in denen das gute Kind das Geheimniß der großen That ihrer Liebe der einzigen Liebesthat, auf die sie stolz ist gehütet hat wie ihren Augapfel. Tausendmal hat es ihr auf den lächelnden und doch leise zuckenden Lippen gelegen; zehntausendmal hats in ihrem liebevollen und doch ängstlichen Auge gestanden eine kleine Frage, ein verständnißinniger Blick nur und das Geheimniß wäre herausgewesen! Aber er hatte gerade immer in seinen Acten zu lesen, oder er mußte mit dem Eichkätzchen tändeln und hats nie gesehen, nie geahnt, und darüber war sie sehr froh, denn ein Bischen gescholten hätte er doch wie eine Mutter ihr Kind schilt, das, um die Erwartete ein wenig früher zu sehen, mit dem Kopf durch die Fensterscheibe fährt und dann, wo blieb der große Trumpf, den sie für das Spiel ihrer Liebe und ihres Lebens zwei Dinge, die für sie identisch sind in der Hand behalten wollte, wenn Eichkätzchen und Singvögelchen, die kleinen Atouts, von dem bösen Gegner Zeit mitleidslos weggestochen waren!

Und es kommt der Tag, und es kommt die Stunde. O, des furchtbaren Tages! o, der furchtbaren Stunde! Sie thats «aus Liebe für ihn», und er weiß es, muß es wissen; in dem Briefe, den der Verräther an ihn geschrieben, «steht Alles drin» und «so schonend wie möglich», und stände es schonungslos da mit den mitleidslosen nackten Daten und Zahlen und Facten sie müssen ihm ja sagen, warum sies that, für wen sies that! Ja, er weiß Alles, Alles und nun! Wenn er in seinem Herzen nur einen Funken jener Liebe hätte, die langmüthig und freundlich ist und sich nicht ungeberdig stellt und nicht das Ihre sucht; wenn er nicht bis ins innerste Mark ein Betrüger wäre, der sich immer nur selbst am meisten, ja einzig und allein geliebt; seine Liebe zu ihr je etwas Anderes gewesen wäre als eitel Lüge und schnöde Sinnlichkeit; wenn in sein eitles Herz je der Schimmer gefallen wäre der göttlichen welterlösenden Wahrheit, er je etwas angebetet hätte als die nackteste Selbstgerechtigkeit er müßte ihr bebend, schluchzend in die Arme sinken: Nora, Nora! armes, großherziges, geliebtes Kind!

Und er!

«Unglückselige was hast du gethan? eine Heuchlerin, eine Lügnerin ja, noch Schlimmeres, Schlimmeres, eine Verbrecherin! O, diese bodenlose Häßlichkeit, die darin liegt! Pfui, pfui!»

Ja bei dem großen Gott der Liebe: diese bodenlose Häßlichkeit!

Der Wolf, der das Lamm zerreißt, er ist eben eine Bestie; der Henker, der das Opfer blutig geißelt, er ist ein gemeiner Kerl und hat sich nie für etwas Anderes gegeben, und schließlich gehorcht auch er noch irgend einem zwingenden Gesetz; und dieser Gentleman zerreißt, zerfleischt das Weib, das an seinem Herzen gelegen, die Mutter seiner Kinder, die Frau, die es that, «weil sie ihn über Alles in der Welt geliebt»; schlägt sie mit jedem seiner brutalen Worte wieder und wieder in das arme, zuckende Herz

Armes Weib! den Liebsten durch den Tod verlieren, von ihm verrathen werden, es ist ja bitter und schwer; aber das Bitterste, das Schwerste war dir vorbehalten: zu erkennen, daß du nie geliebt wurdest, nicht einen Augenblick! daß der Mann deiner Liebe nie gewußt hat, was Liebe ist; daß deine eigene Liebe ein leerer Wahn; daß deine Kinder schlimmer sind als Bastarde: geboren sind in einer Ehe, die keine war. Und so ist dir deine Liebe geschändet, das Leben vergällt, die Welt zertrümmert. Durch seine Schuld? durch deine? Es ist eine schwere, schwere Abrechnung, und du warst immer eine schlechte Rechnerin. Auch kann Jemandem, dem das Herz im Leibe zerrissen ist, der Kopf nicht eben klar sein. Vielleicht bringst du ihn in der Stille und Abgeschiedenheit wieder in Ordnung; vielleicht heilt auch dein zerrissenes Herz, aber freilich: ohne weniger als ein Wunder wird es wohl nimmer geschehen.

Und Nora geht.

«Natürlich! denn in dieser Nora ist kein Funke von Liebe mehr. Sie meint vielleicht, daß es großartig ist, was sie thut; es ist einfach unverzeihlich und abschreckend.»

Ich führe diesen Satz jener bereits citirten Kritik in der «Gegenwart» nicht an, um ihn zu widerlegen; denn entweder habe ich das mit dem, was ich oben gesagt, schon gethan oder bin es überhaupt nicht im Stande. Ich wollte nur den Leser, den ich jetzt hoffentlich auf meiner Seite habe, in Erstaunen setzen durch die Tiefe und Weite der Kluft, die ihn und mich von unseren Gegnern trennt.

Ich verstehe darunter nicht solche Gegner, die mit uns schon im Princip differiren; die nicht mit uns dafür halten, daß es Beleidigungen giebt, die nie vergeben werden können, und vor denen keine Liebe Stand hält; und daß eine Ehe, aus der die Liebe unwiederbringlich gewichen, keine Ehe mehr, sondern ein schimpfliches Concubinat ist; und wie sie innerlich zerstört ist, auch äußerlich geschieden werden muß; und daß selbst die Existenz von Kindern kein absoluter Hinderungsgrund der Scheidung ist, denn sonst könnten überhaupt nur kinderlose Ehen geschieden werden.

Mit solchen Gegnern ist natürlich keine Verständigung möglich.

Aber vielleicht doch mit denen, welche der Ansicht sind, daß hier die Sachen so schlimm nicht liegen; daß es sich nur um ein immerhin schweres Mißverständniß zwischen den Gatten handele, welches aufgeklärt und beseitigt werden könne und müsse, ja bereits aufgeklärt und beseitigt sei; und mit demselben der Grund der Trennung einer Ehe, die sogar jetzt und jetzt erst recht die beste Anwartschaft dauernden, ungetrübten Glückes habe.

Und die zur Begründung ihrer Ansicht den überaus peinlichen Eindruck anführen, welchen nach unserem eigenen Geständniß das Schauspiel auf jedes gesunde Gefühl mache und doch unmöglich machen könnte, wenn es in demselben mit rechten Dingen zuginge, nicht aus den Prämissen falsche Consequenzen gezogen würden. Denn anderenfalls würde uns die Vorführung eines ja immerhin traurigen Geschickes mit der entsprechenden Trauer, dem entsprechenden Mitleid erfüllen, uns vielleicht bis in der Seele Grund erschüttern, nimmermehr aber peinlich berühren eine Wirkung, die ein Werk echter Kunst niemals hervorbringe.

Was ist darauf zu erwidern?

Daß in der That «Nora» kein echtes Kunstwerk, kein in sich abgeschlossenes, sich selbst erklärendes, an und für sich verständliches Drama ist, sondern einige in dialogische Form gebrachte Capitel eines Romans, dessen Anfang weit vor dem Beginn des Dramas liegt, ebenso wie sein vermuthliches Ende weit hinter den Schluß des Dramas fällt, ein paar Capitel, in welche sowohl aus dem Anfang als aus der Fortsetzung des Romans alles Mögliche unwillkürlich hineingerathen, von dem Dichter absichtlich hineingebracht ist, was uns wie er hoffte das Verständniß der schwierigen Situation, der räthselhaften Charaktere erleichtern sollte, in Wirklichkeit aber diese Situation verschleiert, diese Charaktere bis zur Unverständlichkeit entfremdet.

Und hier sehe ich eben das schlimme Verhängniß, welches über der modernen dramatischen Production waltet. Der Poet hat eine gesunde dramatische Idee, in diesem Falle ich spreche von dem, was Ibsen gewollt hat, meinetwegen gewollt zu haben scheint den Conflict, der über kurz oder lang in der Ehe eines Bildungs-Pharisäers und einer Frau, die ganz Liebe ist, ausgetragen werden muß. Anstatt nun die Gelegenheitsursache frisch vom nächsten Zaun zu brechen, holt er sie ein paar Meilen weit aus einem dicken Wald und muthet uns zu, daß wir uns in demselben auf die paar Andeutungen hin, die er uns macht, ebenso gut zurechtfinden wie er, der ihn nach allen Seiten die Kreuz und die Quer durchstrichen hat. Anstatt den Pharisäer von vornherein zu kennzeichnen, daß wir wissen oder doch wenigstens ahnen, welches Gelichters er ist und was wir uns von ihm zu versehen haben, hüllt er ihn in eine Maske, die so täuschend dem Ansehen eines exemplarischen Beamten, Gentleman und Gatten gleicht, daß, wie er der Dichter sie nun abreißt, wir umgekehrt das wahre Gesicht für eine Maske oder doch ganz momentane Verzerrung halten. Und vice versa müssen wir mit der liebenden Seele so lange Makronen naschen und Eichkätzchen und Singvögelchen spielen, bis auch der Vertrauensvollste an der Echtheit des Cordeliascheins, der ihm plötzlich präsentirt wird, gerechten Zweifel hegt. So dichteten die Molière und Shakespeare nicht; so dichten nur unsere modernen Poeten, die, wenn sie ein Drama schreiben wollen, das sich in drei Stunden abspielt und auch in der Wirklichkeit nur drei Tage währt, vorher einen Roman zusammenspintisiren, der sieben und vermuthlich noch mehr Jahre umfaßt und drei Bände stark ist, und in welchem denn freilich Alles bestens exponirt, motivirt und ausgeführt sein würde oder doch sein könnte, was in dem Drama durch einander wirrt und brodelt und quirlt wie in einem Hexenkessel wäre zu hart, aber vielleicht: wie in der Retorte eines Alchymisten, der auf lauteres Gold operirt und es schließlich doch nur bis zu Kupfer bringt.

Da ist zum Beispiel der Doctor Rank. Ich hörte allgemein über diese abstoßende, ja widerwärtige Persönlichkeit, die sich noch dazu über ihre Nothwendigkeit im Drama gar nicht legitimiren könne, bittere Klage führen. Ich räume ein, der arme Doctor spielt im Drama eine traurige Rolle, besonders wenn er, wie es bei uns geschah, traurig gespielt wird. Aber ich, der ich ihn aus dem Roman um so genauer kenne, als er ein Halbbruder von meinem Doctor im «Skelet im Hause» ist, kann versichern, daß er dort im Roman keineswegs als fünftes, häßlich knarrendes Rad nebenherläuft, im Gegentheil sehr kräftig in den complicirten Mechanismus der Geschichte eingreift, die eigentlich erst durch ihn verständlich wird. Jetzt begreift man nicht, wie es möglich, daß Nora sich sieben Jahre lang über die geistige Oberflächlichkeit und Herzensleere ihres Gatten täuschen konnte. Man begreift es vollständig, wenn man in dem Roman sieht, wie der geistvolle hochgebildete, bei all seiner scheinbaren Schroffheit, seiner satirischen Laune, seinem oft schneidenden Sarkasmus tief gemüthvolle Doctor vom ersten Augenblick an zwischen ihr und dem Bildungs-Pharisäer von Gatten gestanden: er, der Freund, der «täglich ins Haus kommt»; der Arzt, mit dem sie so manche bange Stunde am Bett eines und des anderen der erkrankten Kinder gesessen; der sie in guten Stunden (sie ahnt nicht, wie viele erst durch ihn gut wurden!) «so gern plaudern hört», mit dem sie so gern plaudert; mit dem sie über so Vieles sprechen kann, was sie vor der läppischen Eifersucht ihres Gatten verschweigen muß: über «ihre Lieben daheim», über Alles, Alles, weil er für Alles das herzlichste Verständniß hat, an Allem, was sie betrifft, was sie trifft, den innigsten, gütigsten Antheil nimmt. So kann es, so muß es geschehen, daß ihr die beiden so grundverschiedenen Gestalten wie in eine zusammenfließen, in der sie nicht mehr zu unterscheiden vermag, was auf den Einen und was auf den Anderen kommt, und dabei natürlich alle Ehrenqualitäten auf den schlechteren Mann häuft und ihn zu lieben und sich von ihm über Alles geliebt glaubt, während sie mit dem Anderen «nur gern zusammen sein möchte» und doch er es ist, der sie wahrhaft liebt und bei dem es keine Phrase, daß «er freudig für sie sein Leben hingeben würde».

Das ist der Doctor Rank des Romans.

Aber auch die im Drama so unsympathischen und schwer verständlichen Gestalten der Frau Linden und Günthers zeigt uns der Roman in einem freundlicheren und vor Allem klareren Lichte. Da im ersten Theil, der von der Jugendgeschichte der Heldin handelt bildet die ernste, schwermüthige Freundin den wirksamsten Gegensatz zu dem heiteren Weltkinde; ebenso wie der von Haus aus unglücklich veranlagte, durch unverschuldetes Mißgeschick früh verbitterte Günther trefflich mit Helmer contrastirt, der vom Glück förmlich getragen, von den Frauen verhätschelt wird und den Haß des Jugendfreundes, dem er überall den Rang abläuft, überall im Wege steht, durch den Hochmuth, mit welchem er auf ihn herabsieht und ihn mißhandelt, redlich verdient. Und ebenso erscheint uns, die wir ihr früheres Verhältniß ganz genau kennen, die spätere, im Drama ganz unbegreiflich schnelle Verständigung Günthers und seiner Jugendgeliebten vollkommen begreiflich, ja nothwendig.

Und die Kinder gar! Wie verletzen unser Ohr und unsere Empfindung ihre unnatürlichen gequälten Stimmen von der Bühne herab, und wie herzerquickend klingt ihr harmloses Geplauder, ihr silbernes Lachen durch den Roman! Und nun werden die armen Geschöpfchen in dem falschen Schluß noch aus den warmen Bettchen gerissen, um die Mutter, die fliehen will, zu halten; oder bleiben in dem richtigen hülflos, verlassen im Kämmerlein züruck, weil das Drama doch einmal ein Ende nehmen muß und, wie die Sachen da liegen, auch gar kein anderes nehmen kann, während im Roman schon der nächste Tag Alles besser macht und zwischen den für immer getrennten Gatten wenigstens über die Kinder eine Verständigung herbeiführt und sie ein Arrangement treffen läßt, wie es denn unter so traurigen Umständen getroffen zu werden pflegt.

Gut! aber was geht uns ganz abgesehen davon, daß er nie geschrieben ist der Roman «Nora» an?

Ganz und gar nichts, lieber Leser! Ich habe auch mit alle dem nichts weiter gewollt, als erklären oder versuchen zu erklären, wie es möglich war und ist, daß die Urtheile über das Schauspiel «Nora» so weit aus einander gingen und noch immer aus einander gehen.

Aber so haben doch die Recht, die sich ihr Urtheil aus dem Stück und nur aus dem Stück gebildet haben?

Ganz gewiß! und doppelt Recht, wenn sie selbst das Stück nur aus der Bühnenaufführung kennen.

Denn wenn das Hic Rhodus, hic salta von einer Kunst gilt, so ist es die dramatische.

Und wie schlecht es um diese trotz alles zum Theil blendenden Anscheins vom Gegentheil bei dem Schauspiel «Nora» im Grunde steht, dafür giebt es keinen schlagenderen Beweis als den, daß selbst das Spiel der Frau Niemann es nicht vom frühen Tode und Untergang in der Gunst des Publikums hat retten können.

Welch ein Spiel!

Ein Spiel, bei dem man nicht auf Augenblicke, sondern von Anfang bis zu Ende vergaß, daß es nur ein Spiel, daß es nicht leibhaftige Wirklichkeit sei, was sich da vor uns in unsäglicher natürlicher Anmuth und holdester Naivetät bewegte. Man müßte die Feder eines Lichtenberg haben, um das zu schildern; und auch die würde zu plump und stumpf sein für diese zarten und doch so festen Conturen, für diese ewig wechselnden und immer einheitlichen Züge des Bildes, welches das in ihrer Art unvergleichliche Genie der Künstlerin vor unsere entzückten Blicke stellte. Da war Hamlets Ideal der Schauspielkunst einmal verkörpert; da paßte die Geberde zum Wort, das Wort zur Geberde; da wurde die Bescheidenheit der Natur nie überschritten.

Und so ging doch wenigstens eine schöne Hoffnung der Nora-Schwärmer in schönste Erfüllung.

Mögen sie sich damit begnügen!

Wie sich der Dichter mit dem Magna voluisse wird trösten müssen.

Ein leidiger Trost!

Und doch wohl dem, der das melancholische Wort auf sich anwenden darf!

Hat einer dazu das Recht, so ist es der Dichter der «Nora».




Noten

1. Das geistige Leben in Dänemark. Von Adolf Strodtmann. Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel, 1873.
2. Die Besprechung ist, während ich diese Zeilen schreibe, noch nicht erschienen. Jedenfalls wird sie einen interessanten Abschnitt des nächsten jener Berichte ausmachen, in denen mein verehrter Freund von Zeit zu Zeit «die Berliner Theater» Revue passiren läßt.
3. No. 48 vom 29. November.
4. Ich bitte diejenigen, welche sich über Ibsens Entwickelungsgang genauer unterrichten wollen, das Weitere in Strodtmanns bereits angeführtem Buche S. 204 bis 258 nachzulesen.
5. Uebersetzt von P. F. Siebold (Kassel 1880) und sonst mehrfach.
6. Die Stützen der Gesellschaft. Schauspiel in vier Aufzügen. Deutsch von Wilhelm Lange. Der Universalbibliothek Nr. 958.
Publisert 22. mars 2018 14:33 - Sist endret 22. mars 2018 14:34