Otto Brahm

Die Frau vom Meer ved Königliches Schauspielhaus i Berlin anmeldt av Otto Brahm i Frankfurter Zeitung i Frankfurt am Main 8. mars 1889 (Nr. 67. Erstes Morgenblatt. Dreiunddreissigster Jahrgang.).

Ibsen im Berliner Hoftheater.

Berlin, 6. März.

«Auf Allerhöchsten Befehl. Zum Besten der Unterstützungskasse des Vereins Berliner Presse. Zum ersten Male: Die Frau vom Meere. Schauspiel in 5 Akten aus dem Norwegischen des Henrik Ibsen.» Schon diese Ankündigung des neuen Werkes trug den Schein des Ungewöhnlichen, und naive Theaterbesucher erzählten sich, es hätte eines obersten Machtwortes bedurft, um die durch merkwürdige Hemmungen immer wieder hinausgeschobene Aufführung endlich zu Stande zu bringen. In Wahrheit war freilich der «allerhöchste Befehl» nur eine Formel für die genehmigte Wohlthätigkeitsvorstellung gewesen; aber an allerlei in der Stille arbeitenden Bemühungen und an frommen Wünschen, diese Darstellung scheitern zu sehen, hat es in der That nicht gefehlt, und mit so lebhafter Spannung hat man selten einem theatralischen Ereigniß entgegengesehen, wie diesem Einzug Ibsens ins Schauspielhaus. Ueber dem ganz gefüllten Saal lag es wie Erwartung und Aufregung, man sah ein ungewöhnlich distinguirtes, geistig vornehmes Publikum, die hervorragendsten Schriftsteller, Gelehrten, bildenden und darstellenden Künstler, die Direktoren des Burgtheaters und des Deutschen Theaters; und daß man den Dichter anwesend wußte, aufmerksam lauschend an der Seite des Generalintendanten, erhöhte noch die Stimmung. Man empfand, daß hier nicht nur ein einzelnes Stück in Frage stand, sondern ein poetisches Prinzip, man empfand, daß nicht nur über das Theaterschicksal der «Frau vom Meere», sondern auch über die Geltung Ibsens für die deutsche Bühne der Gegenwart in diesem Saale die Entscheidung fallen könne.

Wenn Applaus und Hervorrufen im Theater eine Bedeutung überhaupt haben, so ist diese «Ibsen-Frage» mit einem entschiedenen Ja! beantwortet worden: nach jedem Aufzuge sind die Darsteller, nach dem zweiten, vierten und fünften der Dichter vielmals und stürmisch gerufen worden; im Ganzen sind Autor und Schauspieler wohl an zwanzigmal vor den Rampen erschienen. Der Widerspruch, der in keiner Berliner Première fehlt, hielt sich dem gegenüber in mäßigen Grenzen, und besonders in der ersten Hälfte des Abends überwog die Zustimmung unbedingt; später stellte sich bei einem Theile der Zuschauer Abspannung ein, nicht am kleinsten verursacht durch ein zuweitgehendes Streben der Darsteller nach intimen Wirkungen, welches die Deutlichkeit des Vortrages stark beeinträchtigte; und gerade in einem Ibsenschen Drama, wo jedes einzelne Wort gilt und zählt, wurde solcher Mangel doppelt schwer empfunden. Dennoch aber blieb, wie gesagt, der Eindruck ein großer biz zum Schluß, und in lebhaftem Danke sprach er sich aus.

Das hindert natürlich nicht, daß die Meinungen, die gesprochenen und die geschriebenen, weit auseinandergehen. Ist schon den Werken des gewöhnlichen Bühnenlebens gegenüber Einhelligkeit niemals vorhanden, so treffen vollends hier, vor einer Erscheinung, die über das rein Theatermäßige so weit hinauswächst, bewundernde Zustimmung und erbitterter Widerspruch hart aufeinander; und einer der Berliner kritischen Wortführer fixirt darum seinen Eindruck heute Morgen so: «Während das gebildete Publikum sich den Wunderlichkeiten des Stückes gegenüber in Schweigen hüllte, brachte die Ibsengemeinde, wie billig, ihrem Meister lärmende und aufdringliche Huldigungen dar. Das Stück ist eine verzwickte Krankengeschichte, in der sich phantastische Gesichte und Grillen mit cynischen Alltäglichkeiten verbinden.» Und dieses Urtheil, aus der Sprache der Literatur in die Sprache des Wirthshauses übersetzt, sammelte sich dann in den zwei Schlagworten: langweilig! verrückt!

Bekanntlich gibt es Leute, welche meinen: die wahren Verrückten sind die Irrenärzte. An diese kundigen Thebaner erinnert es mich, wenn man, vom Standpunkt des sogenannten gebildeten Publikums, das heißt vom Standpunkt einer nüchternen, doctrinären Bildung aus an die größten Erscheinungen der modernen Kunst herantritt und sie, welche die bewegenden Empfindungen des Zeitalters auszusprechen suchen, der Verrücktheit zeiht. Nacheinander hat sich das bei unseren großen Künstlern wiederholt: Richard Wagner erscheint in der Musik er ist verrückt; Böcklin in der Malerei verrückt. Gegenwärtig ist Ibsen an der Reihe; und das Urtheil der verhärteten und selbstgewissen Bildung verweist auch ihn zu diesen Vorgängern, und klagt uns, die wir seine Absichten zu erkennen streben und seine Größe bewundern, der geheimen Zettelung und Verbrüderung an.

Das ist die eine Seite der Sache, die Verrücktheit. Folgt die Langweiligkeit, die man an Ibsen findet, und die man bei den großen Mitstrebenden gleichfalls entdeckt: bei Zola, und wiederum bei Richard Wagner. Mit der Uhr in der Hand hat man einst die ersten Aufführungen des «Tristan» und des Nibelungenringes verfolgt, man hat festgestellt, daß diese Scene um fünf Minuten und jene um zehn Minuten zu lang ist, und daß man zu spät zum Abendessen kommt. Solche Polonius-Weisheit macht sich nun auch gegenüber Ibsen geltend; und weil sie die Intention des Poeten auf den ersten, oberflächlichen Blick nicht erkennt, sich aber, ihrer Einsicht, natürlich mehr vertraut, als dem Dichter, so langweilt sie sich und schickt Ibsen, frei nach «Hamlet», «mit seinem Barte zum Barbier»; wer aber anders urtheilt, der ist befangen und gehört zur Ibsengemeinde.

Diese vielberühmte Ibsengemeinde nun was ist sie und wo ist sie? Als ein reines Hirngespinst erweist sie sich, wenn man ihr nur ein wenig näher tritt. Wer hat sie organisirt und wer leitet sie? Wer ist ihr Papst, ihr Hohepriester? Ibsen in Person gewiß nicht, Niemand hat weniger Neigung dazu als er, den Kunstpapst zu spielen, Niemand hat stärker als er das Recht der Individualität betont der einzelnen freien Menschen, die in Reih und Glied mit den andern nicht marschiren wollen. Und nun sollte sich eine Kunstheerde bilden unter seinem Namen und Schutz? Nichts so Unibsenisches gäbe es wie eine «Ibsengemeinde». Die Herren mögen sich beruhigen: weder ein Bayreuth ist in Aussicht, noch Patronatsscheine und Festspiele. Die Verehrer Ibsens, Künstler und Studenten, Freunde der Poesie und der Bühne hier und dort und überall, sie marschiren getrennt; und wenn sie vereint schlagen im Theater, so geschieht es nicht nach geheimer Verabredung, nicht weil sie eine Sekte unter sich gebildet haben, einen Staat im Kunststaate, sondern weil die von innen entstammende individuelle Erkenntniß allen gemein ist, daß in diesem Dichter das Empfinden der Zeit sich gewaltig zusammenfaßt, und daß er für das moderne Drama auch die Wege erfolgreich gesucht hat, auf denen ein Fortschreiten zu neuen Kunstformen uns Lebenden möglich ist. Die echten Resultate der modernen Anschauung hat er dem Drama zugeführt, hat er zuerst der Bühne erobert; und wenn ein bequemes Unterhaltungsbedürfniß sich das Theater ganz schien unterwerfen zu wollen, so hat er gezeigt, daß auch die Kunst der Gegenwart, in ihren tiefsten und feinsten Formen, das Theater beherrschen will und wird.

Der Sieg aber, welchen Ibsens neuestes Drama gestern errungen hat, fällt um so schwerer ins Gewicht, weil er an einem ungewohnten Orte, mit einer nicht immer erfolgreichen Künstlerschaar und mit einem der am schwersten zugänglichen Werke des Dichters erstritten ward. Hält man die «Frau vom Meere», neben Ibsens «Wildente» oder «Volksfeind», so erscheinen diese älteren Werke als die vergleichsweise populäreren, als die leichter zugänglichen, lebhafter bewegten Dramen, welche auch den Sinn unempfänglicherer Hörer schnell gefangen nehmen können. Die «Frau vom Meere» ist spröder, sie ist spezifischer nordisch in ihren Charakteren, und völlig lebt sie in einer Sphäre individueller, poetischer Anschauung, in welche sich zu erheben nicht Jedermann willens oder befähigt ist. Eine ganz einheitliche Theaterwirkung wird die Dichtung nicht leicht ausüben; und daß gestern im Schauspielhaus an manchen Stellen ein Nachlassen des Interesses eintrat, darf darum nicht Wunder nehmen: die Darsteller des Hoftheaters sind eben noch Neulinge in Ibsens Kunst. Mit allem Eifer hatte Herr Anno, selbst ein überzeugter und thatkräftiger Anhänger des Dichters der «Gespenster», das Werk eingeübt, mit allem Eifer waren um die führenden Rollen der «Frau vom Meere», Ellida, und ihres Gatten Doktor Wangel, Frl. Clara Meyer und Herr Reicher bemüht, und besonders die erstere überraschte durch die Energie und muthige Bestimmtheit ihres Spieles. Aber Aufgaben von so schwerwiegender Art sind mit einem Schlage einzig durch schauspielerische Genialität zu lösen; die mittleren Talente werden nur allmählich in sie hineinwachsen, nur allmählich die feineren Töne des Affektes treffen. Die Seele des Stückes in die Darstellung hinauszutreiben, ist beiden Künstlern nicht gelungen: dieses rührende Suchen von Mann und Frau, dieses angstvolle Zueinanderstreben zweier Menschen, die sich äußerlich nah und doch im Innersten fern geblieben sind durch die Folge der Jahre.

Sechs Jahre lang ist Ellida mit Doktor Wangel vermählt, aber der Mann, welchem sie einst ihre Hand gegeben nicht aus Liebe, sondern weil sie allein und hilflos dastand im Leben, ist ihr in dieser Zeit nicht näher gekommen. Seine Güte, seine herzliche Neigung hat sie dankbar empfangen, aber in ihrem Herzen lebt ein unbestimmter Drang in das Weite, ein Sehnen aus diesen kleinen Verhältnissen des norwegischen Küstenstädtchens hinaus in das Freie, an das heimathliche, rauschende Meer. Diese Stimmung zu stärken, hat viel Einzelnes und Kleines beigetragen; nur die zweite Frau des Doktor Wangel ist Ellida, sie findet sein Herz nicht ganz frei, neben ihr, nicht mit ihr, leben zwei Mädchen aus Wangels erster Ehe, die der Stiefmutter, «der fremden Frau vom Meere», nicht vertraut werden wollen in all der Zeit. Und keine häusliche Pflicht, keine menschliche und keine geistige Sorge nimmt ihre Gedanken in Anspruch; «wenn ich heute reise», so spricht sie selbst, «da habe ich nicht einen Schlüssel abzugeben, nicht einen Bescheid zu hinterlassen, weder über dies noch das. So ganz ohne Wurzel bin ich in diesem Haus. Aber es liegt eine Vergeltung darin. Etwas, das sich rächt. Denn jetzt gibt es hier keine bindende Macht keine Stütze für mich keine Hilfe keinen Zug nach alledem, was unser Beider innerster Besitz hätte sein sollen.»*) So mit lebendigem und feinstem Detail nimmt der Dichter sein altes Lieblingsproblem wieder auf: das Problem der Ehe, wie er es in voller Kraft in «Nora» ausgestaltet. Eine andere Nora ist auch Ellida, aber die entscheidendste Wendung des Dramas liegt darin, daß ihr Gatte kein Advokat Helmer ist, kein verkälteter Egoist, sondern ein in aller spießbürgerlicher Schwäche guter und durch seine Güte großer Mensch, der zuletzt die Fliehenwollende hält und gewinnt durch eine freie That der Liebe. Eine Erinnerung aus alter Zeit steigt ihr auf, das Gedenken an einen fremden Mann, dem sie sich in früher Jugend anverlobt, nicht aus eigenem Willen, sondern wie unter dem Zwange einer Naturgewalt, einer Hypnose; und dieser geheimnißvolle fremde Mann, den sie vor sich sieht, je länger je deutlicher, dieser unbekannte Weltenwanderer, der mit dem Meere verwandt ist , «er gehört hinaus aufs offene Meer. Dort hinaus gehört er,» ruft Ellida er kehrt nun wieder, plötzlich, in währender Handlung, und will Ellida mit sich ziehen. Nicht um eine gewöhnliche Theater-Entführung handelt es sich hier, nicht um einen romantischen Bühnencoup, der hinter dem Rücken des Gatten zu vollziehen ist; sondern zu freier Aussprache der sich bekämpfenden Anschauungen treten sich die drei Handelnden gegenüber, zugleich echte individuell belebte Personen und zugleich Typen menschlichen Empfindens von tiefer Bedeutung. Die seltsam-kunstvolle Vereinigung von Realismus und Phantastik, von treuem Wirklichkeitsdrange und einem über diese Welt hinaustretenden, dem Ruf der großen Naturmächte lauschenden, dichterischen Fühlen, gibt diesen Scenen ihr Eigenstes und Bestes; und der Poet fesselt uns bis zuletzt, wenn er, scheinbar überraschend und doch mit genauester psychologischer Motivirung, den seelischen Konflikt in Ellida löst durch Wangels Resignation: im Augenblicke der letzten Entscheidung gibt Wangel selbst die Gattin frei, im Innersten getroffen von ihrer Verzweiflung, löst er die Bande, die sie halten, damit sie ohne Zwang, unter eigner Verantwortung, das Rechte wähle; und die bis dahin dem fremden Manne schien folgen zu wollen, wendet nun von dem Lockenden und Ziehenden, von dem Manne, der «wie das Meer» ist, grauenvoll und still sich ab, und in vollster Erkenntniß der Güte, die ihr zur Seite lebt, will sie nur Wangels Gattin sein, nur die Mutter seiner Kinder, die Herrin seines Hauses.

Nur flüchtig ist die Haupthandlung des Stückes in diesen Worten skizzirt, und der reichen Nebenhandlungen, der episodischen Paare Oberlehrer Arnholm und Bolette (Hr. Keßler und Frau v. Hochenberger) und Lyngstrand und Hilde (Herr Vollmer und das wie immer treffliche Fräulein Conrad), sowie des Factotums Ballested, eines Gegenbildes zur Frau vom Meere (Herr Bornemann) ist noch weniger gedacht. Wie wäre es auch möglich, den Reichthum dieses Werkes hier baar und blank aufzuzählen, die überraschende Originalität seiner Charaktere, die Anschaulichkeit im Detail, die zusammengehaltene Kraft der Gedanken. Einige Längen, die allzu auffallende Neigung zu Retardationen und die nicht immer glückliche äußere Verkettung in der Scenenfolge der drei Paare fallen gegen so herrliche Vorzüge leicht ins Gewicht. Wir brauchen kein letztes Wort über diese Dichtung heute zu sprechen, denn sie gehört zu denen, welche in die Bücher und Literatur eingetragen werden; aber gewiß scheint dieses Eine: daß mit dem Erscheinen Henrik Ibsens auf unserem Hoftheater (wie auch das Schicksal seines jüngsten Werkes weiter sich erfüllen möge), eine neue Geltung für seine Werke gewonnen ist, und daß darum der Abend vor gestern für die deutsche Bühne der Gegenwart ein bedeutungsvoller bleiben wird.

Otto Brahm.


*) «Die Frau vom Meere». Deutsch von Julius Hoffory. Berlin, S. Fischers Verlag, 1889.
Publisert 6. apr. 2018 09:52 - Sist endret 6. apr. 2018 09:52