Otto Brahm

Ein Volksfeind på Ostend-Theater i Berlin anmeldt av Otto Brahm i Frankfurter Zeitung, Frankfurt am Main, 9. mars 1887 (Nr. 68. Erstes Morgenblatt. Einunddreissigster Jahrgang.).

Henrik Ibsens «Volksfeind» in Berlin.

Berlin, 7. März.

Das lebhafte Interesse, welches in unserer literarischen Welt für Henrik Ibsen und die Aufführung der «Gespenster» erweckt worden ist, hat zur Darstellung eines zweiten Werkes des norwegischen Dichters geführt: sein Schauspiel, «Ein Volksfeind», ist soeben im Ostend-Theater unter dem lebhaftesten Beifall in Szene gegangen. Mehr ein Zufall, als besondere Absicht, hat es so gefügt, daß gerade dasjenige Werk auf die «Gespenster» folgte, welches auch chronologisch diesen Platz einnimmt; man muß auch über den äußeren Zusammenhang hinaus von den «Gespenstern» ausgehen, wenn man Ibsens «Volksfeind» in seiner Grundstimmung erfassen und in seiner Veranlassung verstehen will.

Lauter Beifall und lärmender Widerspruch, wie er bei uns in Deutschland die «Gespenster» empfangen hat, begrüßte auch in der Heimath der Dichtung das kühne Werk; nur daß die Anklagen noch schärfer, unmittelbarer fielen, daß man den Poeten, welcher die norwegische Welt, aus einem unbarmherzigen Wahrheitsdrange heraus, geschildert hat, ganz so wie er sie sah, ohne Verhüllung und Beschönigung , daß man diesen Poeten in seiner Liebe zum Vaterlande verdächtigte, ihn des Hasses an dem eigenen Volksthum beschuldigte in polternden Worten. Schon einmal, zwanzig Jahre zuvor, als Ibsen in der «Komödie der Liebe» ein Bild gewisser sozialer Zustände, so wie sie sich seiner satirisch gestimmten Laune darstellten, entworfen hatte, war man ihm mit ganz persönlichen Anklagen nahe gekommen, und der Lärm der erregten Debatten hatte ihn aus der Heimath verscheucht, in die er bis heute zu ständigem Aufenthalt nicht zurückgekehrt ist: jetzt, da sich eine neue Sturmfluth von Anklagen und Beschuldigungen gegen ihn wälzte, gegen ihn, der seinen Landsleuten doch die von allen bewunderte «Nora» geschenkt hatte und dessen dichterische Größe in ganz Skandinavien bewundernd erkannt worden war jetzt erfaßte ihn von Neuem der Zorn des Satirikers und sein eigenes Schicksal gestaltete sich ihm in der Figur des Badearztes Stockmann, den die Mitbürger einen «Volksfeind» heißen: sein Stolz, sein Selbstgefühl, seine Poeten-Empfindlichkeit, alles bäumte sich in ihm auf gegen die Angreifer; und das Gefühl, aus dem heraus er sein Werk empfangen hat, es spricht sich in diesen Sätzen Stockmanns beredt aus:

«Ein häßliches Wort kann wirken wie ein Nadelstich in der Lunge; und dies verwünschte Wort Volksfeind ich kanns gar nicht los werden; es hat sich mir hier fest ins Herz gegraben; da liegt es und gleicht sauren Säften. Dagegen hilft kein Magnesia . . . Daß der Mob es wagt, mir in einer Weise zu Leibe zu gehen, als sei er meinesgleichen das kann ich nicht verwinden!»

Aber Petra, die Tochter Stockmanns, die treu zu ihm hält in allen seinen Kämpfen, ihres Vaters rechtes Kind, gibt ihm den Rath: «Du solltest dirs von der Seele fortlachen, Papa!»; und in einem eigenartigen Gemisch von Zorn und Laune und Selbstironie nun entwickelt der Dichter die Handlung vor uns; der Menschheit Tragödie und Komödie zugleich, so hatte er einst gesagt, ziehe ihn am meisten an und eine Tragikomödie gestaltete er hier, die keiner hergebrachten ästhetischen Form sich einfügen will, sondern sich selber Regel gibt und Gesetz.

Betrachtet man diesen völlig subjektiven Ausgangspunkt des Dramas, und sieht man dann, wie bestimmt und konkret seine Figuren alle entwickelt sind, die überragende Hauptperson des Volksfeindes wie die zahlreichen lebensvollen Nebenpersonen, so wird die Bewunderung für die gestaltende Kraft dieses Dichters die größte sein. Gewiß, es ist richtig, daß die individuelle Stimmung, aus welcher dies Werk entstand, überall für den tiefer Eindringenden bemerkbar wird: man sieht die Zornadern schwellen auf der Stirn des Dichters und vergleicht man diese Schöpfung etwa mit «Nora» oder den «Gespenstern», so wird in Rücksicht auf künstlerische Rundung dieser der Preis zufallen. Aber doch, wie hat der Dichter verstanden, die Gestalt seines Helden von sich abzusondern, wie ist sie ihm nah und fern zugleich, wie lebensvoll in ihrer schwärmerischen Naivität tritt sie vor uns hin!

Ibsen senkt tief in den Boden seiner Heimath die Wurzeln des Dramas; und das nordische Lokalkolorit, aus dem die Ereignisse hervorwachsen, dieser etwas kleinstädtische, beschränkte Horizont seines Helden wird ihm von sich fühlenden Groß- und Weltstädtern wohl überlegen vorgehalten. Allein, wenn man den Inhalt von der Form, Kern und Schale nur zu trennen weiß, so erkennt man bald, daß auch hier ein ganz moderner Geist spricht, bei dem die Mühe wohl sich belohnt, die Operation des Abstrahirens von zufälligen Bedingungen vorzunehmen; nur daß leider es nicht Jedermanns Sache ist, solche Arbeit in sich zu bewältigen. Als nach dem zweiten Akt der Vorhang, unter lebhaftem Beifall der Hörer, fiel, fragte ein weiser Nachbar neben mir mit der tiefgefühlten Würde eines superklugen Hauptstadtbewohners: Wird das nun noch lange so weiter gehen mit dieser Badeanstalt?; und als in der That es noch eine Weile «so weiter ging», wuchs sein Erstaunen über die sich steigernde Theilnahme der Zuschauer immer lebhafter an. Gerade die unbefangenen Hörer, diejenigen, welche sich dem Eindruck einer ihnen ganz unbekannten Dichtung, für die ihre Zustimmung erst zu gewinnen war, rückhaltlos hingaben, wurden auf das Lebhafteste gefesselt und es ist damit der Beweis geliefert, daß solche als unverständliche Literaturdramen verschrieenen Werke, für die angeblich nur eine «Gemeinde» der Liebhaber sich interessirt, auf weite Kreise starke Wirkung thun können und hoffentlich auch thun werden.

Eine Badeanstalt also, schrecklich es zu sagen, steht im Mittelpunkte des Werkes; das heißt ein großes lokales Unternehmen, das der ganzen Küstenstadt im südlichen Norwegen (man glaubt Skien, den Geburtsort des Dichters, darin zu erkennen) einen lebhaften Fremdenverkehr und neuen Aufschwung allen kommunalen Lebens bringen soll. Jedermann erblickt in dem Bade das Heil der Stadt, Allen voran Doktor Stockmann, welcher die Idee des Unternehmens zuerst erfaßt und durch Jahre allein vertheidigt hat; als sein Bruder Hans, der Bürgermeister des Ortes, dann der Verwirklichung es zuführt, ist der Doktor Badearzt geworden und aus dem einsamen Norden, in welchem er lange ein kümmerliches, tristes Leben geführt hat, in die Heimath zurückgekehrt. Mit vielen lebendigen Zügen, in einem Reichthum angeschauter Details, dessen Entwicklung den spannenden Gang der Handlung doch nirgends aufhält, stellt der Dichter diese Verhältnisse und die Charaktere der beiden Brüder vor uns hin: jener, ein peinlicher, korrekter Beamter, ein braver aber beschränkter Mensch aus dem Geschlechte des Pastor Manders der «Gespenster», dieser ein weltfremder Sanguiniker, der von allen Dingen nur das Gute sieht, der in der Einsamkeit seiner Existenz «da oben» es verlernt hat, die bestimmenden Mächte in der realen Welt zu erkennen und der überall mehr aus dem Herzen, als auf dem Kopfe seine Entscheidungen trifft. Rein aus diesen Charakteren, nicht aus einer komplizirten Vorgeschichte läßt der Dichter die Vorgänge des Stückes sich entfalten, und wenn man ihm sonst wohl vorgeworfen hat, daß es seinen tiefen Seelendramen an Durchsichtigkeit und an Beweglichkeit der Handlung mangele, daß er Probleme von mehr novellistischer Art verwirrend auf die Scene stelle, so hat er hier ein Werk geschaffen, so reich an Aktion, wie einfach in seinen bewegenden Motiven, voll unmittelbarer Spannung und populärer Bühnenwirkung.

Daß zwischen Charakteren von so starker Gegensätzlichkeit, wie der Bürgermeister und der Doctor Stockmann, Konflikte entstehen müssen, läßt uns der Dichter, im Beginn seines Stückes, sogleich ahnen, um sodann im zweiten Akt diesen Konflikt, eben durch die Badeanstalt, plötzlich und überraschend zu entwickeln. Schon lange hat Doctor Stockmann gegen die wohlthätige Wirkung des Bades, gegen die Reinheit und Gesundheit dieses Wassers Zweifel gehegt und diese Zweifel wachsen nun zur Gewißheit an: das Wasser ist infizirt durch Tausende von Bacterien, die aus den Gerbereien des oberen Thales den Leitungen zufließen, am Strande kommt ein giftiger Schmutz, aus den nämlichen Ursachen, zum Vorschein und kurz: «das ganze Bad ist eine Pesthöhle». In starken Worten, wie sie sein lebhaftes Temperament ihm eingibt, spricht Stockmann diese Wahrnehmung aus, und rücksichtslos, in unbesonnener Ueberstürzung verkündet er, der Badearzt und Mitbegründer des ganzen Unternehmens, sie Jedem, der sie hören mag: nicht nur dem gestrengen Bruder und Vorgesetzten, sondern auch den Herren von der liberalen Presse, die bei ihm ein- und ausgehen und die ein willkommenes Thema für ihren «Volksboten» nun gefunden glauben. Aus dem Gefühl heraus, daß die Einrichtung, wie er sie vorgeschlagen, aber gegen den Widerspruch seines Bruders nicht durchgesetzt, jenen schlimmsten Schaden würde verhindert haben, und aus einem unbegrenzten Wahrheitsdrange, den es antreibt, das, was er als richtig erkannt, auch unverzüglich zu realisiren, achtet er weder seiner Stellung, noch seines Verhältnisses zum Bruder, er erwägt auch nicht, welches die Bedingungen sein werden, die pekuniären und die allgemeinen, unter denen die Verbesserungsvorschläge, die er nun sofort als unerläßlich ausspricht, durchzuführen wären, sondern in seiner Einseitigkeit, die von einem lebhaften Selbstbewußtsein nicht frei ist, mit hastiger Energie, stellt er seine Forderungen hin und es entspricht vollkommen der praktischen Auffassung eines ruhigeren Temperaments, wenn ihm der Bruder sagt: «Du bist ein höchst unbesonnener Mann, Thomas!»

Man muß dieses Moment genau ins Auge fassen, um den Fortgang der Handlung und ihre innere Begründung recht zu verstehen: Stockmanns Uebermaß von rücksichtslosem Wahrheitssinn begründet, auch für die Anschauung des Dichters, eine Schuld, die sich strafen wird, es ist etwas von Hybris, von tragischem Uebermuth in ihm, der diesen Rückschlag und die Vergeltung der Welt auf ihn zieht. Nur wenn man dies erkennt, wird man den Intentionen der Dichtung gerecht; und all die strafenden Reden, mit denen nun Stockmann, von dem gegebenen Einzelfall des sumpfigen Bades zu der allgemeinen Versumpfung des Gesellschaftszustandes emporsteigend, auf seine Mitbürger, da sie seiner Wahrheit nicht das Wort gönnen wollen, eindringt, all die flammende Entrüstung, die er gegen seinen Bruder, gegen die Männer der Presse, die ihn mundtodt machen wollen, nachdem sie zuerst ihn unterstützten, gegen die Volksversammlung, die er einberufen hat und gegen die ganze Stadt schleudert all das prüfen wir zunächst nur auf die individuelle Wahrheit hin, welche es für den dargestellten, so bestimmt dargestellten Charakter hat, nicht auf seine allgemeine Wahrheit hin; und hier finden wir abermals, daß die Konsequenz und kühne Kraft dieser Schilderung ihre Lebendigkeit und echte Realistik jeder Bewunderung werth sind. Nur als eine leisere Unterströmung verspüren auch wir die begleitende Empfindung des Dichters, die dem Helden seine feurigen Worte eingibt gegen die Thorheit der kompakten Majorität und für die wenigen Vornehmen, wahrhaft Freieren, die nicht an die alten, überlebten Theorien noch glauben, sondern für neue keimende Wahrheiten der Menschheit auf Vorposten stehen; und die überzeugende Kraft seiner Dichtung läßt gerade an den Punkten nach, wo es der individuelle Zorn des Satirikers über die ruhige Besonnenheit des gestaltenden Künstlers gewinnt.

Wie viel unmittelbare Wirkung dem Drama dennoch innewohnt, bewies die Aufnahme des ersten, wie des zweiten Abends. An jenem überwog die literarische Hörerschaft, an diesem das naivere Sonntagspublikum; der Eindruck war aber an beiden Abenden gleich stark, der lebhafteste Applaus lohnte nach jedem Akt der Dichtung und der Darstellung, welche Herr Kurz sehr verständig eingeübt hatte und Herr Ranzenberg in der Titelrolle mit Kraft und schauspielerischer Gewandtheit anführte. Wenn aber ein Werk von ernster Prägung gleichmäßig auf die Kenner wie auf die Massen wirkt welch besserer Beweis seiner dramatischen Gestaltung wäre möglich? Nur die Superklugen stehen grollend bei Seite und in mancherlei kritischer Rede und Widerrede wird auch diesmal der Streit der Meinungen auseinandergehen. Wie schwach die sachlichen Gründe sind, die man gegen das erfreulich anwachsende allgemeine Interesse für Ibsen aufzuführen hat, zeigt der Umstand, daß man jetzt mit Vorliebe den «nationalen» Standpunkt gegen diesen «Ausländer» geltend macht: und dieselben Leute, welche die Vorherrschaft der Franzosen auf unserer Bühne so lange ruhig geduldet haben, verweigern nun, in plötzlich aufwallender patriotischer Entrüstung, dem norwegischen Dichter die Gastfreundschaft der deutschen Bühne. Und doch ist es grade die nationale Verwandtschaft, die zu diesen Dichtungen so viele hinzieht: es ist der Grundzug der germanischen Wahrheitsliebe und des germanischen Sinnes für individuelle Eigenart und Kraft, der aus Ibsens Drama bezwingend zu uns spricht.

Otto Brahm.
Publisert 20. mars 2018 15:44 - Sist endret 20. mars 2018 15:45