Maximilian Harden

Lille Eyolf anmeldt av Maximilian Harden (psevdonym for Maximilian Witkowski) i Die Zukunft 9. mars 1895, Berlin, Bd. 10 (1895), s. 478-86.

Ibsens Fahne.

Auf einem Hügel, den dichtes Gebüsch bedeckt, stehen zwei Menschenkinder, ein Mann und ein Weib. Sie haben, die seit manchem Jahr ins Eheband Eingezwängten, am Tage der Abrechnung einander Böses und Bitteres gesagt, schrille, vom Schmerz geborene Worte, die schmerzen sollten, und mit zäher Härte ums Lebensrecht gerauft, wie zwei Zusammengeschmiedete, die gemeinsam die Gefahr des Ertrinkens bedroht, noch mit erlöschender Kraft, in gurgelnden Tönen, einander schmälen und schimpfen, weil Jeder wähnt, daß nur des Anderen Schwere und die Last der Kette ihn niederzieht. Sie haben von den schwärenden Wunden die blutigen Lappen gerissen und des eigenen Wehes nicht geachtet, um nur dem Anderen recht wehe zu thun. Nun hat der Zorn und der Jammer ausgekeucht, das Toben hat sich erschöpft, die Wunden sind wieder umwickelt und in die beiden Menschenkinder ist matte Ruhe zurückgekehrt. Auf dem Hügel stehen sie, im Schlinggewächs einer Laube, und blicken, während vom Sommerabendhimmel mählich die Wolken weichen, still und doch mit zitternden Nerven noch hinab auf den engen Fjord, an dessen Saum wüstes Elend haust, dumpfe Unwissenheit und rohe Gewaltthat. Ein leichtes Geländer nur trennt unser Paar von dem steilen Abhang, der jäh in die Tiefe führt; zur Linken windet in leiser Senkung sich ein schmaler Fußpfad hinab. Das Geländer schien den Beiden bisher stets ein sicherer Schutz, die Grenze gegen eine fremde und feindliche Welt, deren Leben sie nicht kennen wollten und deren mißtönend heraufhallendem Echo ihr verzärteltes Gehör sich verschloß; da unten wimmelte doch nur viehische Gier und Gemeinheit, mit der die verfeinerte Menschlichkeit keine Gemeinschaft hat: deshalb blieb der schmale Steg unbenützt und der Abhang schied steil von der Höhe die Tiefe. Jetzt erst, da das auf der Höhe vereinsamte Paar den Groll und den Geifer ausgestöhnt hat, da es wund und müde und zum Schaffen untüchtig herniederstarrt, jetzt erst gedenkt es Derer, die in der fremden und feindlichen Welt da unten sich regen, in Bedrängniß und Qual. Und der Mann geht ans Geländer, wo eine Fahne auf Halbmast weht, zum Zeichen der Trauer, und hißt sie bis zur Spitze des Flaggenmastes empor. Da soll sie künftig nun flattern, im frischen Hochgebirgswind, und, wie vom Klippenthurm das Leuchtfeuer den irrenden Schiffern, der ängstlich umgetriebenen Menschheit der Tiefe verkünden, daß im Herbstgebüsch des Hügels noch menschliches Leben wohnt.

Von welcher Farbe ist diese Fahne? Wer hat sie gehißt? Ists das Banner von Norwegen, das der Gutsbesitzer Alfred Allmers aufgepflanzt hat, um dem Gewimmel am Strande zu zeigen, daß für ihn nun ein neues Leben sorgender Nächstenliebe beginnt? Oder hat der große Dichter, der in seinem Gedicht vom kleinen Eyolf diesem Herrn Alfred Allmers den breitesten Platz einräumte, selbst der unsicher auf ihn blickenden Menschheit ein vielleicht letztes Lebenszeichen gegeben? Hat er die weiße Fahne gehißt, um nach langem Hader mit Gott und den Menschen Frieden zu schließen und, da es für den Aufrechten allgemach nachtet, bei den müden Mitleidigen die Unterstatt zu suchen, von denen Zarathustra einst also sprach: «Wo in der Welt geschehen größere Thorheiten als bei den Mitleidigen?»

Taine hat, als er die klare Kälte der Stendhal und Balzac dem weicheren und wärmeren Dickens verglich, einmal von seinen Landsleuten gesagt: Ils aiment lart plus que les hommes. Ils nécrivent pas par sympathie pour les misérables, mais par amour du beau. Taine stammte in gerader Linie von Comte ab, dem Vater des Positivismus, und er hatte seine Aufgabe darin gesucht und gefunden, zwischen den Thatsachen und ihren Bedingungen das verbindende Glied zu entdecken. Aber wie der Meister der philosophie positive noch dahin kam, vor der schlichten Einfalt der Hirtin von Orleans andächtig das Haupt zu neigen, so sänftigte auch der grausam gleichmüthige Botanisirtrieb des Schülers sich zu mitleidiger Milde : sein Herz gehörte Dickens, Thackeray und der süßen Zauberin Mary Evans und sein Geist nur bot den Stendhal und Flaubert kühl bewundernden Gruß. Das jüngere Galliergeschlecht, das Taine, Renan und der in seinem Vaterlande fast schon verschollene Novalis entbunden haben, hat in der Mitleidenskunst, der müden Tugend der Decadence, rasche Fortschritte gemacht; es schwelgt in den schwülen Weihrauchdünsten der griechischen Kirche, sieht in Tolstoi das Oberhaupt einer mondänen Urchristengemeinde und pilgert, wenn der grand prix vorüber und Yvette Guilbert auf Urlaub gegangen ist, nach Bayreuth, zu den Wundern des Grals. Diese träg schwärmende Neigung zu neuer Mystik entspricht der Uebersättigung mit scheinbar positiver und scheinbar Wissen schaffender Wahrheit; sie entspringt der Scham des Vergnügungsüchtlings, den am hellen Mittag erst der schrille Jammerruf von der Straße erweckt und der gern den Rest seiner Baarschaft opfern möchte, um im Gewissen den Mahner zur Ruhe zu bringen. Es ist eine Zeitstimmung, die zwischen dem herrlichen Kuppelbau des alten Glaubens und dem harten Gemäuer der Entwickelunglehre zaudernd steht, die im Mitleiden sich einen ewigen Bußtag schafft und die Nietzsche darum also gehöhnt hat: «Ihr drängt Euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage Euch: Eure Nächstenliebe ist Eure schlechte Liebe zu Euch selber.» Ist Henrik Ibsen, der Dichter des kleinen Eyolf, von dieser Zeitstimmung angesteckt worden? Will er wirklich, wie man ausnahmelos bisher, bewundernd bald und bald spottend, gesagt hat, die uralte Heilandsweisheit wiederholen, daß man den Nächsten lieben soll als sich selbst und daß der Rachegott im eigenen Busen nur durch Werke der Liebe versöhnt werden kann? Weht endlich von dem Eispalast des Magus aus Norden die Friedensfahne zur Kapitulation?

Wer flüchtig hinschaut, mag es wohl glauben. Auf den ersten Blick sieht es wirklich so aus, als sei der unerbittliche Entdecker menschlicher Blöße mit dem koketten Asketen Tolstoi im Ziel zusammengetroffen. Aber der Schein trügt, und wenn man durch die Klüfte, die zwischen den knappen Zeilen des neuen Altersgedichtes sich aufthun, hindurchkriecht, kann man deutlich das Gnomenkichern des Schöpfers vernehmen, den grinsenden Ausbruch tückischer Freude darüber, daß auch diesmal das künstlich verwirrte Labyrinth den Besucher narrt. Dem Dichten Henriks Ibsen hat nicht die Menschenliebe die Zunge gelöst, sondern die Entrüstung über die Seltenheit oder, wie er selbst einmal gesagt hat: die Nieheit der moralischen Werthe. Er hat armsälige Erdenbewohner in sein riesiges Richtmaß gereckt, sie zu klein befunden und sich vermessen, selbst den freien und frohen Adelsmenschen zu schaffen, den neuen Adam, stolz und stark; er hat, als er überall doch wieder auf den großen Krummen stieß, den biegsamen Geist der Gefälligkeit, der sich hier duckt und dort feige Kompromisse schließt, den Versuch gemacht, mit einem Streich das ganze gespenstische Heer ins Dunkel zu bannen und auf einem apokalyptischen Schreckensbilde zu zeigen, wie ein erbsündiges Geschlecht unter den Folgen seines Gespensterglaubens zusammenbricht; als auch diese Abschreckung nicht half und der Dichter erkennen mußte, daß die Durchschnittsmenschheit mit einer Leiche auf dem Rücken nicht leben kann und daß die Macht überkommener Vorurtheile stärker ist als die selbst zu erwerbende Kraft zur Wahrheit, da hat er, eher verächtlich als mitleidig lächelnd, dem Schwächling die Lebenslüge gestattet und dem Kranken die lindernde Fontanelle in den Nacken gesetzt; und endlich, als der wachsende Weltruhm ihn am eigenen Leibe den Unterschied zwischen Lehre und Leben empfinden ließ, hat er sich selbst gemessen und frei dann vor allem Volke bekannt, daß auch er nur ein kleiner Mensch sei, der die Höhe der eigenen Weltanschauung nicht erklimmen, ein schwindliger Baumeister, der auf seine eigenen Häuser nicht klettern könne. Jede dieser Etappen brachte eine Umwandlung, gewiß; aber nicht der Anspruch wandelte sich, sondern die Hoffnung nur wurde geringer, ihn jemals erfüllt zu sehen; die ideale Forderung blieb bestehen, aber sie wurde seltener präsentirt, weil die Aussicht auf prompte Einlösung dem alternden Dichter mählich entschwunden war. Es klingt nicht sehr glaublich, wenn man jetzt hört, Ibsen sei unter die Slavenapostel gegangen und wolle die Menschen, die er mit harten Ruthenstreichen früher zu bessern versuchte, schmeichelnd nun zum Dämmerkultus des Mitleidens bekehren, wie irgend ein erstbester Bourget oder ein anderer Ministrant von Notre Dame de la piété sans la foi. Er ist nie von Beglückungwünschen ausgegangen, sondern stets von dem Trieb, Reinlichkeit und Wahrheit zu schaffen und Unreinlichkeit und Unwahrheit zu enthüllen, ohne Rücksicht auf Scheu und Scham der also Entdeckten. Auch das Gedicht von Klein Eyolf ist kein Erbauungbuch, etwa wie die Familie Tulliver, Adam Bede oder gar die Kreutzersonate; auch dieses Gedicht zeigt, in ironischer Beleuchtung, nur einen Zustand, der ist, nicht den Zustand, der des Wünschens und Strebens allein würdig wäre; auch in diesem Lied klingt das alte Ibsenmotiv vom grassen Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit dem hellen Gehör deutlich an; und nur darin besteht zwischen den älteren Werken und dem neuen Gedicht ein Unterschied, daß hier zum ersten Male die ideale Forderung ganz verschwiegen wird. Klein Eyolf ist nicht, wie die fast immer Ueberflüssigen, die sich Kritiker nennen, anzunehmen scheinen, Ibsens Parsifal, die Verbeugung des zum Zeugen untüchtig gewordenen Greises vor mystischem Mitleidensdienst und die strenge Verdammung pochender Sinnentriebe, die Frau Rita Allmers, wie Kundry, im Büßergewande hinwegläutern muß; Klein Eyolf ist, richtig verstanden, vielleicht Ibsens «Sturm», das dunkle Märchen eines Ermattenden, der nach seinem Ebenbilde Menschen nicht mehr schaffen kann und der in ein letztes, verschwimmendes Bild doch eine Weltstimmung noch und die ganz bestimmte Epoche einer Weltanschauung bannen möchte.

Das merken die Vielzuvielen nicht, weil sie das Ibsengeheimniß noch nicht enträthselt haben. Es giebt nämlich ein Ibsengeheimniß, das, merkwürdig genug, bis auf den heutigen Tag nicht erkannt worden und in dem die Wurzel aller im Ibsenreich möglichen Mißverständnisse zu suchen ist. Früher gebrauchten die Dramatiker die Sprache, um ihre eigenen Gedanken oder um die Gedanken ihrer Geschöpfe auszudrücken; wie Einer war, so gab er sich auch in der Rede: tapfer und groß, wenn er zu den Guten, tückisch und gemein, wenn er zu den Bösen gehörte; es kamen auch Heuchler vor, Lente, die anders dachten, als sie sprachen, aber dann war der Ton so dick aufgetragen, daß eine Täuschung nicht möglich war; Richard, der um Anna wirbt oder im Gebetbuch liest, ist so wenig zu verkennen wie der den Bruder bejammernde Franz Moor. Langsam verfeinerten sich die Mittel der Charakterisirung durch die direkte Rede und mancher subtile Dichter kam in ihrem Gebrauch der Vo llendung nahe. Keinen aber wüßte ich, der mit Bewußtsein versucht hätte, was Ibsen versuchte und was ihm namentlich in den künstlich gezeugten Alterswerken gelang. Dieser eulenäugige Mann aus der Gegend der Mitternachtsonne hat erspäht, daß der moderne Mensch, dieses komplizirte Gebilde aus altem Vorurtheil und neuem Urtheil, fast immer so spricht, wie er gehört und verstanden sein möchte, und fast nie so, wie er wirklich denkt und empfindet; daß in der Rede zumeist der breite Strom der schönen Gefühle fließt, die Jeder der Konvention schuldig zu sein glaubt, und daß in der Sprache der Schein und nur im Handeln das Sein sich enthüllt. Die Beobachtung ist ganz sicher richtig; Jeder spricht, in unserer Zeit immerwährender Oeffentlichkeit, beinahe schon unbewußt eine für ein Publikum bestimmte Sprache und auch in der Intimität giebt es oft genug Abgründe zwischen Dem, was gesagt, und Dem, was empfunden wird. Die Besonderheiten der Temperamente kommen hinzu, der Wunsch des Schwachen, stark, und des Derben, mild zu erscheinen, und auch die Schranken, die uns die gesellschaftliche Höflichkeit errichtet, hemmen die Freiheit des Wortes. Der Widerspruch, der zwischen Reden und Handeln so entsteht, muß die Kunst des satirischen Dichters reizen. Ibsen hat ihn vielleicht nicht zuerst gefühlt, aber ganz gewiß als Erster ihn systematisch dargestellt; er ist ein Virtuose in der Fähigkeit geworden, den Hörer über den wahren Werth des Menschen, der zu ihm spricht, zu täuschen; er treibt ein Räthselspiel, wie Wagner es mit den Leitmotiven trieb, die er für ganz ähnliche Zwecke verfeinerter Charakteristik verwandte. Und der Humor davon ist, daß wirklich Alle getäuscht werden, die eitlen Ibsengelehrten so gut wie die nüchternen Ibsenhasser. Wir haben erlebt, daß Frau Hedda Gabler, dieses anmaßende Nichts, als eine Kraftnatur angestaunt wurde, die in der dumpfen Enge der Kleinbürgerlichkeit sich nicht ausleben kann, und daß der Baumeister Solneß für ein sieghaftes Genie gelten mußte; wir erleben jetzt, daß Herrn Alfred Allmers ein faustischer Drang und seiner «verzehrend schönen» Gattin ein schrankenlos begehrender Egoismus angelogen wird. Warum? Ganz einfach: weil alle diese Herrschaften nach ihrem Reden und nicht nach ihrem Handeln beurtheilt werden. Den Geschöpfen Ibsens aber, mögen sie noch so ehrliche Gesichter zeigen, darf man kein Wort glauben; sie sind sämmtlich Komoedianten und haben vor dem Spiegel sorgfältig eingeübt, wie man schönreden und doch die falschen Zähne verbergen kann. Man muß genau prüfen, was sie thun, wenn man wissen will, wofür man sie zu nehmen hat; ihr Wesen treibt in der Unterströmung. Bisher fragte der gute Dichter, ehe er seine Menschen reden ließ: Wie kann unter diesen bestimmten Umständen dieser bestimmte Mensch sprechen? Ibsen fragt, ehe er seine Ideenträger den Mund öffnen läßt: Wie wird unter diesen bestimmten Umständen dieser bestimmte Lebenslügner durch die Sprache sein Sinnen entstellen?

Wenn man den leitenden Faden gefunden hat, bietet selbst das Labyrinth keine Schrecken mehr. Wenn man das Ibsengeheimniß enträthselt hat, lichtet sich leicht das Dunkel, das über dem seltsamen Gedicht vom kleinen Eyolf liegt.

Herr Alfred Allmers, ein armer Student, hat mit seiner Schwester Asta kümmerlich lange vom Stundengeben gelebt. Wenn ihm die akademischen Jahre bescheidene Freuden brachten, mußte sie seelenvergnügt sein, wenn er einen Kameraden brauchte, mußte sie sich in Knabenkleider vermummen und sich Eyolf nennen lassen. Er verstand es, dem guten Kind einzureden, daß er nur für sie lebe, und verlangte in Wirklichkeit doch, daß sie nur für ihn lebe. Da trifft er zu seinem Glück ein schönes und reiches Mädchen, dem er, in der verzärtelten Art seines Scheingeniethums, gefällt. Wieder muß, da der Gedanke, durch eine Heirath Geld zu gewinnen, sein Selbstgefühl verletzt, die Sorge für die Schwester zum Vorwand dienen; ihr will er, wie stets, auch diesmal sich selbstlos wieder opfern. Natürlich streicht er allein alle Vortheile der Verbindung ein: eine schöne, begehrende und begehrenswerthe Frau und ein ungetrübtes Behagen auf einem herrlich gelegenen Grundbesitz. Er liebt die Frau nicht, hat sie niemals geliebt; mit den starken Reizen der Furcht und der Gier hat es ihn zu ihr gezogen, denn sie ist die Kraft und der Reichthum. Er liebt im Grunde nur sich selbst und ist beständig damit beschäftigt, sich eine interessante Persönlichkeit herauszuputzen. Das gelingt ihm, denn er spricht recht nach der Kunst gut gebundener Bücher; er hat immer ein Schlagwort bereit: von den Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere, von der menschlichen Verantwortlichkeit und von dem Gesetz der Umwandlung, mit dem früher schon die ernsthaftere Frau vom Meere gelockt wurde. Dabei ist er keiner Lage gewachsen: ein Lehrer, der nicht erziehen kann, ein Schriftsteller, der nichts Brauchbares fertig bringt, ein Gutsbesitzer, der für seinen Besitz nicht die leiseste Regung herzlichen Interesses hat. Auch den Pflichten des Ehemannes ist er, nach Allem, was wir sehen und recht deutlich hören, nicht gewachsen. Er hat eine Frau, die, wie andere schöne und reiche Frauen auch, das Männchen, das sie sich gekauft hat, für sich allein haben möchte, zu emsiger Lust und zärtlichem Zeitvertreib, und die es natürlich verdrießt, daß der Sprosser sich ihr entzieht und den Schein einer Thätigkeit sucht, bei der doch nichts Gescheites herauskommen kann. Immerhin stimmt vorläuftig die Rechnung dieser Ehe noch einigermaßen, denn die Frau ist gut und schickt sich darein, von den Launen eines weichen Schwächlinges abhängen zu müssen, den ihr Temperament und ihr Wille leicht beherrschen könnte; sie tröstet sich mit dem Gedanken, daß ihr Alfred ein zwar nicht schöpferischer, aber sehr fein geschulter Geist ist, dessen überlegenem Spott sogar ihr frommer Kinderglaube nicht Stand zu halten vermag. Und auf Alfreds Landgut am Fjord gehen, zwischen heißem Gelüsten und leise mit Geschlechtsekel gemischter Verstimmung, die Tage gemächlich hin.

Da klemmt eine neue Ziffer sich in die Rechnung: das Kind; und nun giebts gleich einen Bruch. Der kleine Eyolf, der nach dem Universitätkameraden von früher den Namen erhalten hat, ist ohne Vaterliebe gezeugt und ohne Mutterwonne empfangen worden. Herr Alfred ließ sich verführen und Frau Rita war von der Aussicht gar nicht erbaut, daß die allzu spärlichen Spiele der Flitterwochen nun schon den Lasten der Mutterschaft weichen sollten. Das Kind kümmert heran, ohne zärtliche Pflege; und als Frau Rita wieder einmal in der Locklaune ist, fällt der Kleine vom Tisch und bricht das Beinchen. Der Vater sollte ihn bewachen, aber der Vater war, wie gewöhnlich, im Pflichtgefühl schwach und folgte dem Ruf der Männin. Das hindert den schlauen Adamssohn nicht, dem Weib alle Schuld aufzubürden und getrost dann an seinem Buch über die menschliche Verantwortlichkeit fortzuschreiben. Die Frau aber, der solches Betäubungmittel fehlt, beginnt allgemach doch, ihrem schlimmen Geschick ernstlich nachzudenken. Was hat sie erreicht? Sie hat, nach dem lutherischen Wort, als ein tüchtig Weib, einen untüchtigen Mann überkommen; sie hat in der Gemeinschaft mit ihm den selig machenden Glauben verloren und sucht gegen jähe Begierden nun vergeblich stützenden Schutz; ihr Kind ist zum Krüppel geworden, weil ihr Mann nicht stärker war als sie selbst; sie hat gegeben und immer gegeben, Geld und Gluth, Glauben und Willen, und eigentlich nichts empfangen als ein feines Spielzeug, das nun nicht einmal mit sich spielen lassen will. Der Tausch scheint ihr, gewiß nicht ohne Grund, ungerecht und sie versucht, die längst schon Entpflichtete, den nach langer Sinnenentbehrung ins Haus Zurückkehrenden mit Courtisanenkünsten zu überrumpeln. Auch dieser letzte Versuch mißlingt, denn Herr Alfred hat sich während der Hochgebirgstour eine neue Rolle zurecht gemacht; da es mit der Gelehrtenarbeit doch nichts Rechtes wird er glaubt, wie alle Dilettanten, daß gerade das Beste nicht zu Papier gebracht werden kann , will er künstig nur Vater sein, nichts als Vater. Für seinen kleinen Eyolf will er leben, ganz wie er früher für den großen Eyolf gelebt hat; so sagt er, und wer ihn inzwischen kennen gelernt hat, Der wittert gleich, daß nun das Kind zum Werkzeug väterlicher Launen gemacht werden soll, wie einst die Schwester des Bruders Zeitvertreib abgeben mußte. Der kleine Eyolf soll das Lebenswerk seines Vaters vollenden der noch gar kein Lebenswerk begonnen hat , in ihm sollen alle Glücksmöglichkeiten zeitig geweckt und er soll durch die unermüdliche Sorge des Vaters befähigt werden, trotz dem lahmen Bein stolz und aufrecht durchs Leben zu schreiten und das Heil der Gattung zu erfüllen. Oben im Hochgebirge ist dem Anempfinder das Bewußtsein nahe gekommen, daß die kurze Erdenwanderung eines Sterblichen die Mühe nicht lohnt und daß in der Sorge für die Gattung und in der Liebe zum Künftigen nur Großes zu erreichen ist. Diesem Ideal will er, in interessanter Schwermuth, nun dienen; und während er der Frau in stilisirter Rede eben den herrlichen Plan entwickelt und den hadernden Wiederspruch der von dieser neuen Rolle Geärgerten zu besprechen versucht, stürzt das Kind, das der leidende Held des Planes werden sollte, in den Fjord und ertrinkt. Als die Eltern sich herzten, wurde der kleine Eyolf zum Krüppel; als die Eltern sich zankten, verlor der kleine Eyolf sein armes Leben.

Und nun bricht, mit dem Trauertage, auch der Tag der Abrechnung an und auf dem Hügel, den dichtes Gebüsch bedeckt, stehen zwei Menschenkinder keuchend und athemlos einander gegenüber, der Mann und das Weib. Die Bilanz einer Zufallsehe, eines Bundes von Bildung und Besitz, ohne sittlichen Ernst, ohne Sorge um die Wahl des zur Fortpflanzung tauglichen Geschlechtsgenossen. Das Ergebniß ist kläglich: der Mann hat sich durch Furcht und Gier ins Eheband locken lassen, das kränkelnde Kind ist den selben Reizen, einer märchenhaft werwölfischen Rattenmamsell und ihrem Goldmops, ins Wasser gefolgt und die Frau, die mit klammernden Organen sich so gern an das Irdische halten möchte, tastet vergeblich nach stützenden Gründen. Herr Alfred, der auch jetzt nur an sich selbst denkt, glaubt, bei der Schwester die Zuflucht finden zu können; aber er muß erfahren, daß Asta gar nicht seine Schwester ist, und da diese ganze kleine Welt in Vorurtheilen und Konventionen lebt und da er selbst erst kurz vorher das platte Wort vom Gesetz der Umwandlung geprägt hat, ist mit dieser Enthüllung auch die Reinheit des natürlichen Verhältnisses zerstört und die letzte Stätte möglichen Glückes gesperrt. Der robuste Wegebaumeister Borgheim, diesmal ein schwindelfreier Baumeister und in dem engen Thal der einzige Mensch, der ohne Gespensterglauben ein neues Leben mit neuen Begriffen zu leben wagt, führt die Braut heim und wird schaffen und die Spur seiner Arbeit kommenden Geschlechtern hinterlassen; er wird Wege bauen, Wege für Menschen, die entschlossen sind, rüstig vorwärts zu schreiten und Ueberlebtes und Totes ohne Klage im Rücken zu lassen. Das unselige Paar aber bleibt mit den äußeren Zeichen der Trauer vereinsamt zurück. Mit der frohen, nach keiner Rücksicht fragenden Selbstsucht war es nichts, die hätte eine Renaissancenaturkraft erfordert; zum frei gewählten Dienst der Gattung fehlte die Geschlechtstüchtigkeit und der feste, an kein altes Empfinden gebundene Glaube. Was nun? Nichts bleibt als der allerletzte Trost der Müden und Morschen: unten sind auch noch Menschen; wir kennen sie zwar nicht, aber wir wollen sie lieben; wir haben zwar für uns selbst und für unser Fleisch und Blut nicht zu sorgen verstanden, aber wir wollen den Fremden Vater und Mutter sein; das Nächste haben wir schmählich vernachlässigt, aber wir wollen das Fernste von nun an das Nächste nennen; nichts bleibt als der Versuch, in mitleidigem Dämmern die Gewissensangst einzuwiegen und bei dem lange vergessenen Gott wieder um Gnade zu winseln. Die dicht neben dem Gatten doch einsame Frau, die zuerst die Maitresse dieses bezahlten säumigen Buhlen und dann eine unwillige Mutter gewesen war, will an einer wimmelnden Welt nun Mutterstelle vertreten. Der Abend ist es, der so aus ihr wünscht, der traurige Abend, der vor dem Sinken der Nacht noch Verzeihung und Buße erbetteln will. Sie sucht in den ziehenden Wolken die große Stille. Der Mann aber, der ganz in Aeußerlichkeiten aufgeht, hißt die auf Halbmast wehende Fahne bis zur Spitze empor, um durch ein flatterndes Zeichen, der umgetriebenen Menschheit der Tiefe zu verkünden, daß im Herbstgebüsch des Hügels noch menschliches Leben wohnt.

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Die Fahne, die von der Zinne dieses mühsam geschaffenen Jahrhundertmärchens weht, ruft nicht zur Kapitulation. Es ist nicht mehr das bunte Gewimpel, das Henrik Ibsen hochgemuth einst im Hafen von Suez grüßte, nicht die Flagge, die Solneß sah, als er in Lysanger den Kirchthurm bestieg, nicht die stolze Standarte, unter der die Jugend jungen Siegen entgegenzieht. Aber es ist auch noch nicht die weiße Fahne, die um jeden Preis den Frieden erfleht, nicht die Trauerflagge, die auf dem letzten Wege den Sarg der idealen Forderung schmückt, nicht das Kirchenbanner, das zur Botschaft des misereor super turbam die ächzende Menschheit ladet. Die Farbe der Fahne ist, weil es allgemach schon nachtet, nicht mehr deutlich zu erkennen; vielleicht ähnelt sie der jener Wasserlilien, die duftlos aus der Tiefe des Fjordes emporgewachsen sind. Der alte Dichter hat das Luftschloß mit der Grundmauer darunter erbaut, das seines Solneß letztes Werk sein sollte, er hat ein typisches Paar darin einquartirt, mit dem ganzen Gepäck unnützlicher Wahnvorstellungen, wie sie an einer Weltanschauungscheide die blinzelnden Zwittergeschöpfe umwittern; und er hat auf dem Söller die Fahne gehißt, um das Warnungzeichen zu geben: hierher, zu den verängsteten und verscheuchten Eltern lebensunfähiger Kinder, führt der Weg Alle, die nicht entschlossen und tüchtig sind, für rüstig vorwärts strebende Menschen neue Wege zu bauen.

M. H.
Publisert 6. apr. 2018 10:04 - Sist endret 6. apr. 2018 10:04