Paul Schlenther

Lille Eyolf ved Deutsches Theater i Berlin anmeldt av Paul Schlenther i Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen – Vossische Zeitung 14. januar 1895 (No. 22).

Theater und Musik.

Deutsches Theater.
Sonnabend, 12. Januar. Zum ersten Mal: «Klein Eyolf». Schauspiel in 3 Aufzügen von Henrik Ibsen. Regie Herr Hachmann.

Der kleine Eyolf ist ein Unglücksknäbchen. Schon im frühesten Kindesalter wird er durch Unvorsichtigkeit derer, die ihm das arme Leben gaben, zum Krüppel geschlagen. Er hinkt an der Krücke. Diese Krücke ist beiden Eltern der ewige Ankläger einer Unterlassungssünde, die sie im Sinnenrausch begangen hatten; sie thun, was das feige Menschenherz gerne thut: sie meiden den Anblick der Krücke, sie meiden den Träger der Krücke. Der Vater, ein stiller Gelehrter, sucht geistige, die Mutter, ein üppiges Weltkind, sucht sinnliche Zerstreuung. Der Vater flüchtet zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die Mutter sucht den Vater. Immer jedoch stellt sich zwischen Wunsch und Erfüllung das Bild des kranken Kindes mit der Krücke. Unter dem nagenden Gefühl, etwas Unverantwortliches gethan zu haben, schreibt Eyolfs Vater in einem Buche, das von der menschlichen Verantwortlichkeit handelt; aber diese Strafarbeit fällt ihm zu schwer, er kommt nicht mit ihr ins Reine. Noch weiter ist bei Eyolfs Mutter die Kluft zwischen Wunsch und Erfüllung: sie begehrt, ohne begehrt zu werden.

Diese glücklosen Verhältnisse dauern im Hause Allmers so lange, bis der Vater unter dem wohlthätigen Einfluß zeitweiliger Trennung, unter der läuternden Macht großer Natureindrücke, wohl auch in der Erkenntniß eigner Unzulänglichkeit einen edlen Entschluß in sich erkämpft hat. Was an Eyolf gesündigt ward, soll nun an Eyolf nach Kräften gesühnt werden. Der Vater wünscht und hofft nichts mehr für sich selbst. Sein Lebenszweck soll sein: in Klein Eyolf das Glücksgefühl zu wecken, auf daß er seine Wünsche in Einklang bringe mit dem, was er kann. Dieser Opferwilligkeit des Vaters stehn aber die selbstischen Ansprüche der Mutter leidenschaftlicher als je zuvor gegenüber. Ihre unbegnügte Begehrlichkeit artet zu frevlen Gedanken aus. Schon keimt der Wunsch, ihr Kind möchte dem Glück der Eltern zum Opfer fallen. Und in derselben Stunde, wo sich aus der Mutterseele dieser Gedanke wie ein scheuer Mörder hervorschlich, ereilt den kleinen Eyolf ein jäher Tod. Wieder wie damals unbehütet, folgt er seiner aufgereizten Kindesphantasie. Aug und Ohr auf ein Phantom, auf die alte im Wesen reale, in ihren Einbildungen verstörte Rattenmamsell, gerichtet, stürzt er ins Wasser; das Krüppelchen kann sich nicht retten.

Nun ist das Hinderniß aus dem Wege geräumt. Nun dürfen die Eltern ganz allein sich selbst gehören. Nun aber beginnt der seelische Nothstand erst recht. Das kranke Kind war ein wehmüthiger Mahner gewesen, das todte Kind wird zum Verfolger. Der Zwist wächst. Wenn sonst Eltern am Hügel ihres Kindes in Schmerz und Trauer verbunden stehn, so ist dieser nie zu begrabende, weit im Wasser unfindbar umhertreibende Eyolf ein Schreckgespenst, das Vater und Mutter in Reue, Qual und Vorwürfen aus einander und gegen einander scheucht. Es kommt zur Aussprache, zur Abrechnung. Alles, was jahrelang zwischen Mann und Weib sich gedrängt halte, jeder unredliche Wunsch, jeder stille Vorwurf, jedes Mißtraun, alles was abstieß und verletzte, alle gegenseitige Schuldverstrickung, alles das entlädt sich nun endlich in schroffen, schimpflichen, bittern, bohrenden Worten. In die geheimsten Falten dieser Seelen wird erbarmungslos hineingewühlt; es ist, als müßten die Herzen brechen, die Hirnschalen springen. Mann und Weib ängstigen sich vor einander. Sie wollen nicht allein gelassen sein. Jetzt vermissen sie den kleinen Eyolf, der sie durch seine bloße Gegenwart vor einander geschützt hätte. In ihrer Angst vor einander begegnen sie sich in demselben Wunsch. Vereint stehn sie zu Asta Allmers, der vermeintlichen Schwester, sie möge an Eyolfs Statt bei ihnen bleiben. Aber Asta muß fort, denn sie empfindet für den vermeintlichen Bruder mehr als Schwesterliebe; und auch ihm steht sie seelisch näher als die eigne, fremd gebliebne Frau. Sie ist rein und klug und treu genug, einer Gefahr rechtzeitig zu entgehn. Was sie noch an Herz mit sich nimmt, überläßt sie einem ehrlichen, fröhlichen und fleißigen Naturburschen, der ihr den Verzicht auf das Liebste lohnen wird; seine Freuden werden ihre Freuden werden.

Allmers und seine Frau, die ihre gemeinsame Qual nicht gemeinsam tragen konnten, sind nun allein gelassen; Einer ist des Andern Kerker. Aber in dieser Verlassenheit lernen sie durch gemeinsame Entbehrung des Glücksgefühls einander besser verstehn.

Unter dem Eindruck alles dessen, was sie äußerlich und innerlich erlebt haben, geht eine Veränderung in ihnen vor. Was sie von aller übrigen Welt trennt, bringt sie einander näher. Allmers bemerkt, wie seine Frau langsam von Genuß und Glück Abschied nimmt, wie der Gedanke an Eyolf und an ihre Verlassenheit sie nicht nur peinigt, sondern auch reinigt, wie das Weltkind den Himmel sucht, nach dem auch er, der Freigeist, Sehnsucht trägt. Und er sieht, wie sich alles Leidenschaftliche und Verwegne ihrer Natur in der Verwandeltheit zur Thatkraft festigt, wie dieses erdgebundene Wesen, dieses warmblütige Menschenkind sofort entschlossen ist, das eigne Glück, das verloren ging, andern zu bescheren. Sie, die kinderlose, lässet die Kindlein zu sich kommen. Sie, die vom Unglück Geläuterte, wird denen helfen, die mühselig und beladen sind. Sie, der ihr Christenglaube gestört ist, wird praktisches Christenthum hienieden treiben. Und in dieser Mission finden sich Mann und Weib, das Weltkind und der Freigeist, zusammen. Den Rachegott im eigenen Busen sollen Liebeswerke versöhnen. Auf dieser Flucht aus schlimmen Gedanken zu edlen Thaten ist die naiv empfindende Frau die Führerin, der sentimentalisch grübelnde Mann der Geleitete. Diese Flucht hat noch kein sichtbares Ziel. Wir müssen mit der Hoffnung fürlieb nehmen, daß zwei schuldgequälte Erdenkinder, losgelöst vom eignen Glück, vom eignen Ich, in der Arbeit für andre langsam sich sühnend «zu den Gipfeln», «zu den Sternen», «zu der großen Stille» emporsteigen werden.

Ibsens Egoismus hat in diesem Stück eine altruistische Wendung genommen, seine Skepsis gewöhnt sich an Hoffnung. Wen das wundert, der weiß nicht, daß auch ein alter Dichter dem viel verspotteten und doch nicht aus der Welt zu schaffenden «Gesetze der Umwandlung» unterworfen ist. Gerade die Umwandlung Ibsens, die sich in der Chronologie seiner Werke verfolgen läßt, hat, wie alles was dieser Mann schreibt und thut, etwas streng Gesetzmäßiges. In dieser gesetzmäßigen Umwandlung ist Ibsen nun so weit gelangt, mit der Welt Frieden zu schließen. Klein Eyolf, der soviel Unheil stiftet, ist doch ein kleiner Friedensengel. Nie hat Ibsen ein so reines Frauenbild geschaffen, wie Asta, nie eine so kerngesunde Männergestalt wie den Wegbaumeister, der kein größeres Glück kennt, als Wege zu bahnen: ein ernster und ein lustiger Bürge für die Güte des menschlichen Herzens.

Daneben zwei ringende Seelen

Die eine hält, in derber Liebesluft,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Duft
Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Wie nur je in einer Faustesbrust diese Seelen mit einander gekämpft und durch einander geblutet haben, so hier im Verschluß einer Ehe. Wenn sich diese Seelen in ihrem Kampf vor uns entblößen, wenn wir allen einzelnen Zuckungen und Wechselfällen folgen dürfen, so hat man wohl ein Recht, von «Gefühlsaufdröselungen» zu sprechen; aber solche Gefühlsaufdröselungen scheinen mir keine der Dichtkunst unwerthe Sache zu sein. Es fragt sich nur, wieweit diese innerlichen Aktionen, bei denen Arme und Beine wenig Bewegung haben, auf dem Theater ihre Wirkung thun. Das ist vor Allem eine Frage der Schauspielkunst.

Die Darsteller im Deutschen Theater, namentlich Frau Sorma, haben viel schmeichelhaftes über ihre Leistungen zu lesen bekommen; wenn man manchem glauben wollte, müßte der alte Ibsen ihnen kniefällig danken. Ernste Künstler lassen sich durch flache Lobpreisungen nicht beirren. Man wird wohl auch im Deutschen Theater genau fühlen, woran es gebrach, und manches, was ohne Eindruck blieb, sich selber aufs Kerbholz setzen. Frau Sorma hatte allerdings das sichtliche Bestreben, die Rita Allmers auf Wirkung, ja sogar auf Sensation hin zu spielen. Frau Sorma ist sich ihrer reichen und glänzenden Mittel voll bewußt geworden, sie handhabt ihr kostbares Instrument mit unvergleichlicher Sicherheit. Wie man einst in Wien vom Wolterschreie sprach, wird man bald von Sormaschreien, aber auch vom Sormaschmunzeln, vom Sormaschluchzen und wohl gar vom Sormafäusteballen sprechen. Das aber sind Bravouren des Virtuosenthums, in denen die schwerste künstlerische Gefahr liegt. Wie das berühmte Lazarethpferd alle Roßkrankheiten aufweist, so benutzt Frau Sorma die Rolle der Rita Allmers dazu, um alle jene artigen und zuweilen auch unartigen Künste vorzuzeigen, an denen ihre eigene natürlichen Empfindung wenig oder gar nicht betheiligt ist. Darum konnte zwar die Theaterleistung blenden, aber die dichterische Gestalt, die ringende Seele dieses Weibes konnte weder Furcht noch Mitleid wecken. Das Renommiren mit äußerer Technik ist kein zuverlässiger Regulator für ein inneres Erleben. Rita ist von einer Unschuld der sinnlichen Leidenschaft, die ans thierische grenzt. Sie will naiv genießen, naiv glücklich sein und versteht nichts von allen den Skrupeln, mit denen ihr versonnener Gatte umhergeht. Ihr Gefühl explodirt herzhaft und lebhaft und ist immer im Begriff sich zu kompromittiren. Rubens hätte dieses Naturweib gemalt, aber er hätte ihr einen Faun an die Seite gegeben, und keinen Abstinenzler.

Wenn Herr Reicher den zarten, «stillinnigen», etwas bücherstaubigen Alfred Allmers nicht ganz aus der Tiefe holte, so lag das nicht, wie bei Frau Sorma, an virtuosen star-Mätzchen, sondern zumeist an einer Textunsicherheit, die der vortreffliche Künstler so wenig verantworten kann, wie Alfred Allmers die Verkrüppelung des kleinen Eyolf. Fehlte bei Frau Sorma die Gestalt, so fehlte bei Herrn Reicher nur die Stimmung. Sehr schön aber war das Aufschweben der Gefühle am Schluß, wo sich alle unreinen Triebe im Aether zu verlieren scheinen.

P. S.
Publisert 9. apr. 2018 13:44 - Sist endret 9. apr. 2018 13:45