Otto Brahm

Die Stützen der Gesellschaft ved Deutsches Theater i Berlin anmeldt av Otto Brahm i Die Nation i Berlin 27. april 1889 (Nr. 30, s. 461-462).

Theater.

Deutsches Theater. Die Stützen der Gesellschaft. Schauspiel in vier Aufzügen von Henrik Ibsen.

Dem deutschen Kunsturtheil ist es geläufig, Censuren zu ertheilen: recht gut, gut, genügend. Man straft ab; man unterscheidet Dichter ersten, zweiten, dritten Ranges, und unablässig spielt man die einzelnen Künstler, die einzelnen Werke gegen einander aus. Die berühmte Zweifelsfrage: wer ist größer, Schiller oder Goethe? ist nur in Deutschland denkbar; aber wie wir froh sein sollten, nach Goethes Wort, zwei solche Kerle zu haben wie Schiller und ihn, so sollten wir auch, den Lebenden gegenüber, bedeutender Schöpfungen froh sein und nicht beständig fragen, welche von ihnen denn nun Nummero Eins verdiene? Wir sollten, wenn wir etwa vor Ibsens Dichtungen stehen, nicht die «Nora» gegen die «Wildente» und die «Wildente» gegen die «Frau vom Meere» abschätzen, sondern unbefangen ein jedes für sich, in seinen Vorzügen und Eigenheiten, zu erfassen streben; wir sollten weder die Knospe auf Kosten der Blume erheben, noch umgekehrt der reifen Frucht vorwerfen, daß ihr die frühlingshaften Reize der Jugend doch mangeln. Und wenn wir dann vom ästhetischen Anschauen zum historischen Begreifen übergehen, so werden wir noch deutlicher erkennen, wie hier Nothwendigkeiten der Entwicklung vorliegen, denen mit einem blos abstrakten, läßlichen Kunsturtheil nicht beizukommen ist.

In voller Schaffenslust lebt Ibsen unter uns, und die Reihe seiner Dichtungen verspricht sich noch zu mehren, zu unserer Freude; wohin sein Weg den Poeten in Zukunft führen wird, weiß Niemand zu sagen, und an den vorwärtsschreitenden Aufgaben der Kunst nimmt er den produktivsten Antheil. Und dennoch ist Henrik Ibsen, gerade er, für uns schon bei Lebzeiten gleichsam historisch geworden; und weil die zusammenhängende Reihe seiner Anschauungen, ihre unablässige Entwicklung und Umbildung von Werk zu Werk dem aufmerksamen Blicke so deutlich wird, reizt es die kritische Betrachtung, verwandte Züge der älteren und der jüngeren Schöpfungen aufzuzeigen, und das Werdende am Gewordenen zu erläutern. Darum können wir von den «Stützen der Gesellschaft» nicht sprechen, ohne der Gruppe ihrer Nachfolger zu gedenken nicht im Sinne jener Abschätzung und Censurertheilung, sondern nur um eine naturgemäße Entwicklung sicherer zu erkennen.

Unter Ibsens Schauspielen aus der Gegenwart, geschrieben in der Sprache der Gegenwart, sind die «Stützen der Gesellschaft» das zweite. Wie ein Vorläufer dieser Richtung steht sein modernes Versstück «Die Komödie der Liebe» da, das den Satiriker in Ibsen zum ersten Male voll offenbarte. Die Reihe der acht Prosastücke, welche er dann seit dem Anfang der siebziger Jahre folgen ließ, wird mit dem Lustspiel «Der Bund der Jugend» eröffnet; gleich diesem, so hängen auch die «Stützen» noch von der überlieferten, dramatischen Technik, das heißt also von der französischen Technik deutlich ab. Erst «Nora» bildet dann den Uebergang zu einer neuen, verinnerlichten modernen Kunst, welche seelische Entwicklung und Darstellung von Charakteren über Theaterintrigue und Spannung setzt; in den «Gespenstern» und dem «Volksfeind» kommt diese Kunst auf ihren Höhepunkt, in der «Wildente» nimmt sie eine leichte Wendung zum Symbolischen und Phantastischen an, welche sich in «Rosmersholm» und der «Frau vom Meere» noch verstärkt. Gemeinsam ist den vier ersten Stücken, bis zu den «Gespenstern» hin, der Kampf gegen die gesellschaftliche Lüge, der unbedingte Glaube an die beherrschenden Vorstellungen von Wahrheit und von Freiheit; gemeinsam ist den vier letzten Stücken, vom «Volksfeind» an der allmählich vorherrschende Zweifel an der alleinseligmachenden Kraft jener «idealen Forderungen», das bald ingrimmige, bald wehmüthige Lächeln über die Hjalmar- und Bolette-Naturen, denen ein bedingtes Recht des Daseins neben den höheren Menschen, den Nora- und Ellida-Typen, nun doch zugestanden wird. Und gemeinsam ist allen diesen Stücken miteinander das Interesse an der Frauenfrage, an dem Eheproblem: die figurenreichen Schauspiele «Bund der Jugend» und «Stützen der Gesellschaft» so gut, wie die einfacheren Organismen der «Nora» und «Gespenster» sind zuletzt «Familiendramen», nach Ibsens Wort, und von den allgemeinen Fragen der «Gesellschaft» fort zu den Sorgen des Individuums, von der politischen und sozialen Schilderung zur Darstellung menschlicher Charaktere gelangt der Dichter.

«Eure Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Junggesellenseelen, die Frau bemerkt ihr nicht» in diesen Worten der Lona Hessel liegt der Schlüssel zu den Intentionen der «Stützen»*); und sie verdeutlichen sich noch durch die Kapitelüberschrift des Buches, aus welchem Hilfsprediger Rohrland den aufhorchenden Damen vorliest: «Die Frau als die Dienerin der Gesellschaft»: eben gegen diese Auffassung, welche die Rechte der freien Persönlichkeit unterdrücken will zu Gunsten einer Gesammtheit, macht Ibsens Individualitätsdrang Front, und mit echt poetischer Anschauung zeigt er an vier verschiedenen Frauentypen, wie unter dem Druck der Verhältnisse die Entwicklung der weiblichen Naturen hintangehalten, verkrüppelt und verzerrt worden ist. Da ist zuerst Lona Hessel, die geistig hochstehende, kräftige Frau, welche durch eine enge und ängstliche «Gesellschaft» zur Extravaganz getrieben wird, zur Herbheit und Karrikatur; da ist ihre stillere Schwester, Frau Bernick, die an der Seite eines egoistisch gebietenden Gatten verschüchtert, freudlos dahinlebt. Sodann das Fräulein Bernick, eine stille Existenz gleichfalls, die aber unter dem duldenden Sinn einen tiefgefühlten Widerspruch gegen den Zwang der Konvention trägt, und die sich nach einem weiteren Himmel, einer freieren Luft ihr Leben lang sehnt: «O wie wir hier von Sitten und Gewohnheiten zu leiden haben! . . . Es soll etwas geschehen, das all dieser Wohlanständigkeit ins Gesicht schlägt!» Und zuletzt der Zögling des Fräuleins, Dina Dorff, die Vorgängerin der Nora, die nicht geheirathet und versorgt sein will nach Herkommen, sondern die ihr Schicksal sich selbst zu schmieden begehrt, und die von der wehleidigen Neigung der Pharisäer sich stolz abwendet: «O wie er mich kränkt mit seinen hochmüthigen Reden! Wie ließ er mich fühlen, daß er ein geringes Geschöpf zu sich emporziehe! Ich will keine Sache sein, die man nimmt.»

In solchen, ganz modernen Gestalten und in der satirischen Grundstimmung gegen die morschen Gesellschaftsstützen, nicht in der spannenden Handlung, welche das größere Publikum in der Aufführung des Deutschen Theaters so lebhaft fesselte, liegt die Originalität des Dramas. Wir brauchen in die Einzelheiten dieser Fabel hier nicht einzutreten, der geistige Gehalt des Stückes ist es, der uns zumeist anzieht. Die ungemeinen Vorzüge der Handlung unterschätzen wir darum keineswegs; ihre völlig theatergerechte Fügung, ihr sicheres Vorwärtsschreiten, die ungewöhnliche Spannung und Erregung, in welche sie den Zuschauer unwiderstehlich hineintreibt. Selbst der anfechtbare Ausgang des Stückes, dieser plötzliche Umschlag zum Guten und die moralische Begnadigung des Sünders, sind mit einer technischen Meisterschaft entwickelt, welche die Schwäche der psychologischen Entwicklung für den Augenblick vergessen macht; und so verbindet das Drama mit einer Fülle der geistigen und poetischen Anregungen eine theatermäßig starke Wirkung, welche ihm den breitesten Erfolg in unserem Publikum zu sichern scheint, und die Dichtung, ein Dutzend Jahre nach ihrer Entstehung, mit der vollen Kraft einer Neuheit wirken läßt.

Im Namen des abwesenden Dichters nahm Herr LArronge den Dank der Hörer nach jedem Akt entgegen; er hätte ihn noch als Regisseur empfangen können, denn durch geschickte Kürzungen hat er dem Werke genützt und mit zum Theil dürftigen Schauspielern, ein tadelloses Zusammenspiel und die unmittelbarsten Wirkungen erzielt. Unter den Darstellern der vier Frauengestalten fiel zumeist Frau Carlsen als Lona Hessel auf: ein frappantes, wenngleich kein unbedingt überzeugendes Bild, in ihrer bewußten Derbheit und amerikanischen Unverblümtheit. Ein Hauch von Genialität, von seelischer Schönheit und unverlierbarer Jugend des Herzens müßte sich über diese Darstellung mildernd legen; die Energie des schauspielerischen Gestaltens, so lobenswerth sie an sich auch sein mag, thut es hier nicht allein. Die beherrschende Rolle des Konsul Bernick spielt Herr Pohl mit fertiger Kunst, und einer sehr feinen Behandlung des Dialogs; die radikale Besserung des Sünders vermittelt er mit kluger Sicherheit. Auch die andern Darsteller (Herr Kadelburg, Herr Nissen u. s. w.) zeigten sich, getragen durch die anregungreiche Kunst Ibsens, von ihrer besten Seite; und selbst dem Herrn Wessels gelang es diesmal, wie ein Mensch zu gehen und zu sprechen. Wirklich, es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Otto Brahm.


*) Die Stützen der Gesellschaft. Reclams Universalbibliothek 958.

Publisert 3. apr. 2018 13:40 - Sist endret 3. apr. 2018 13:41