Anonym anmelder i Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung

Nora ved Wiener Stadt-Theater anmeldt i Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung 9. september 1881 (Nr. 205).

Theater.

Wiener Stadttheater: «Nora», Schauspiel in drei Aufzügen von Henrik Ibsen. Deutsch von Wilhelm Lange.
Zum ersten Male aufgeführt am 8. September.

* Das Wiener Stadttheater brachte, mit vollem Eifer das Theaterjahr beginnend, schon gestern die erste Novität. Man spielte das vielbesprochene dreiactige Schauspiel «Nora» von Henrik Ibsen. Das Stück des hochbegabten nordischen Autors hat ein eigenthümliches Schicksal. In Berlin gefiel der Schluß nicht weil er versöhnend war, und in Wien gefiel der Schluß nicht weil er mit einer Dissonanz endete. In Berlin mußte der ursprüngliche Schluß Ibsens wiederhergestellt werden und in Wien . . . nun wir wissen nicht, ob sich das Stück auf dem Repertoire halten wird.

«Nora» ist, trotz aller Bedenken, das Werk eines Dramatikers von großem Talente, von Geist und Geschick; eines originellen Autors, der eigenartige Conflicte erfindet und sie von eigenartigen Menschen durcharbeiten läßt; eines Psychologen, der mit dem ruhigen Blicke des Arztes forscht, festhält, demonstrirt; eines Stylisten, der für eigene Gedanken stets das eigene Wort findet. Aber die eigenthümliche Art Ibsens ist dem Dichter in der «Nora» nicht zum Heile geworden. Wir sehen in dem Drama mehr den Arzt, den Doctor Ibsen als den Dramatiker walten. An seinem Werke hat mehr das Messer als die Feder, mehr das Forschen nach der Krankheit und das Bemühen zu heilen, als die Phantasie, die Schaffenslust und Schaffenskraft Antheil. Es ist aber nicht gut, wenn das Theater zum anatomischen Hörsaale wird, wenn das Publicum sich sagt: das Alles kann wahr sein, ist wahr, es ist jedoch nicht schön, also ist es nicht gut. Der Verstand befriedigt nicht im Reiche des Schönen. Im Theater muß man an das Herz des Zuschauers greifen, dieses entscheidet.

Zu «Nora» sagt sich das Publicum: diese Frau, welche unbedacht und unüberlegt Alles, auch das Unrecht, zu thun im Stande ist, um den geliebten Mann zu retten, kann den Mann nicht mehr lieben, der ihr die Liebesthat als Verbrechen anrechnet, der sie nicht nach dem Sein, sondern nach dem Schein beurtheilt, der wenig nach ihr und viel nach dem Urtheile der Welt fragt. In Handlung umgesetzt, rasch und schneidig, würde auch wohl der herbe Schluß vom Publicum verstanden und angenommen worden sein; aber die Katastrophe wird breit und kühl zerpflückt wie Charpie, in hundert Fäden aufgelöst und in fast endloser Auseinandersetzung, Wort für Wort ausgebracht, in kleinen Dosen, kaffeelöffelweise dargereicht. Das ist Psychologie des Romanes, das ist nicht Action des Dramas. Man will erschüttert, aber nicht belehrt und überredet aus dem Theater gehen.

Da sitzt der qualvolle Haken, an dem man sich nicht fangen lassen wollte. Wenn eine feine, kundige Hand dem ursprünglichen Schlusse Ibsens Kürze gegeben, nur so viel Worte gelassen hätte, als zum vollen Lichte, zum Verständnisse des Entschlusses Noras, Haus und Gatten zu verlassen, nöthig sind, das Stück hätte im Ganzen einen besseren Erfolg gehabt, einen Erfolg, wie ihn der hochbegabte Autor und auch dieses sein Werk verdienen. Stücke mit den Qualitäten Noras wachsen heute nicht zahlreich, Stücke, in denen das Leben in so viel feinen, wahren Zügen geschildert wird. Diese Eva-Nora, die kleine Lügnerin und Näscherin mit dem großen Herzen, dem häßlichen Munde und der goldenen Seele, dieses Weib voll Tugend und Gebrechen, es kommt wieder einmal in der Dichtung hervor, wie es im Urbilde, unter dem Baume, der Schlange folgend, Adam und sich um das Paradies gebracht. Und dieser Mann, der in Nora stets nur das Weib, das schöne Spielzeug gesehen und nie die Frau, der Nora wie eine Puppe behandelt hat, als welche sie auch schon von dem Vater verzogen wurde, ist er nicht ein Spiegelbild, in dem sich rechts, links und inmitten der Gesellschaft Mancher erkennen und «meine Schuld!» rufend an die Brust schlagen wird wenn er es nicht vorzieht, das Stück zu belächeln und grollend das Theater zu verlassen?

Das Schicksal eines Theaterstückes! Auch «Nora» hat es erleben müssen. Und nicht der Dichter allein trägt die Schuld, daß der volle Erfolg ausgeblieben ist. Es wurde nach den zwei ersten Acten lebhaft applaudirt, und die Darsteller konnten wiederholt für den Beifall danken, am Schlusse jedoch regte sich der Widerspruch. Die Darsteller: Frl. Hofmann, Frau Tyrolt, dann die Herren Steinar, Ranzenberg und Witte spielten voll Eifer. Frl. Hofmann, die aus der Noth ihres kleinen Organes nicht wie Frau Niemann-Raabe eine Tugend zu machen versteht und es auch nicht lernen soll, gab die Nora mit vollem Verständnisse, dabei überaus einfach und natürlich, so daß man mehr den Eindruck des Wirklichen als des Schauspielerischen hatte. Wir glauben nicht, daß es in Wien viele Schauspielerinnen giebt, welche die «Nora» besser darstellen würden als Frl. Hofmann.

Publisert 2. apr. 2018 13:36 - Sist endret 2. apr. 2018 13:37