Alfred Kerr

Kronprätendenten ved Neues Theater i Berlin anmeldt av Alfred Kerr i Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung) 8. oktober 1904.

Theater und Musik.

Neues Theater.

Zum ersten Male: «Die Kronprätendenten» von Ibsen.

Das Neue Theater bleibt seinem Programme treu, neu vor allem durch die frische Kraft, mit der es das Bedeutende anfaßt, zu wirken. Ibsens Historie «Die Kronprätendenten», die es gestern mit einem großen Aufwand szenischer Mittel auf die Bühne brachte, sind schon vor achtundzwanzig Jahren mit den Meiningern hier eingezogen und haben seither manche Aufführung erlebt, eine besonders festliche, die mit einer Ibsenfeier zusammenfiel im Wiener Burgtheater im Jahre 1891. Dennoch ist noch unsäglich viel gerade an diesem Stück Ibsens zu erobern. Das hat man gestern in den mehr als vier Stunden der neuen Aufführung mit einem Gemisch von Anstrengung, Staunen und Genugtuung gefühlt. Die «Kronprätendenten» sind eines der schwersten Stücke Ibsens und der neueren Literatur, sind es nicht nur im Sinne der Schwierigkeit, das reich verzweigte Ganze zu beleben und faßlich zu machen, sondern auch, was die Schwere des Gehaltes anlangt, der sich die Aufnahmsfähigkeit allmählich anpassen muß. Es ist ein Reichtum in dieser Dichtung, der gleichsam von zwei Seiten hereindrängt und sie zu sprengen droht. Sie entstand in einer Übergangsphase des Dichters und steht in der Entwicklung des einen Mannes etwa auf demselben Punkte wie Hebbels gigantische Dramen in der Linie unseres nationalen Dramas: noch nahe dem klassischen Vorstellungskreise und seinen Formen und schon hinausweisend in eine neue Richtung der Menschendarstellung und der ethischen Auffassung des Lebens. Ibsen hatte, was alle Nachahmer sich merken sollten, die durch den kecken Griff ins Leben ihm gleichzukommen glauben, seine ausgesprochene Heroenzeit, in der er an dem überliefert Großen seinen Sinn für das Wesentliche schulte, der dann erst in die näheren Niederungen der Gegenwart einkehrte, um das versteckt Große hervorzuholen und eine neue Überlieferung zu begründen. In den halbgeschichtlichen, sagenhaften «Kronprätendenten» wirkten noch alle Anregungen nach, durch die der Ringende hindurchgegangen: die an Deutschland angelehnte dänische Schauspielrenaissance, die in Oehlenschläger ihren romantischen und symbolistischen Vertreter fand, der Einfluß Shakespeares, des großartigen genialen Strichs der Heldencharakteristik und die Macht der deutschen Klassiker mit ihrer Tiefe und Sonnenklarheit. Und schon regte sich des Dichters Originalität, seine tiefsinnige Betrachtung für die Zerrissenheit der modernen Gesellschaft, sein Sinn für die Tragik der Skepsis, mit der jede große Regung unserer Tage kämpft, sein Drang, an die Wurzeln moderner Konflikte zu greifen, die versteckter und tiefer liegen als der längst erkannte moralische Widerstreit. In den «Kronprätendenten» wirken alle diese Regungen äußerlich und innerlich zusammen. Aus der Hakon-Hakonssonssage, die an Ereignisse aus dem 13. Jahrhundert anknüpft, schöpfte Ibsen Vorstellungen, die an alle Meister der Historie erinnern. Der Tod des Bischofs Nikolas, in dem ein unausrottbarer Aberglaube und ein zynischer Welthohn so dicht bei einander wohnen, die furchtbare Sterbeszene dieses Riesenintriganten der Eifersucht, der über den Tod hinaus keinen Mächtigen dulden will und darum den ewigen Zweifel säet, der mit souveränem Hohne sündigt und doch an den Fluch der Sünde glaubt, ist ganz shakespearisch empfunden, erinnert direkt an die Sterbeszene des Kardinals in «Heinrich VI.», deren Gehalt sie gleichsam dialektisch ausweitet. In der Wiederkehr des toten Bischofs, dessen beunruhigter Geist sich in Kriegergestalt hüllt, um in entscheidender Stunde Unheil zu künden, kann man das Original des Schillerschen Talbot nicht verkennen. Die Beziehungen zu Oehlenschläger hat Brandes nachgewiesen, und andere könnten noch leicht betont werden. Aber nicht nur daß alle diese Elemente des heroischen Dramas mit großer Originalität verarbeitet und gefärbt werden, vernimmt man aus dem Hauptkonflikt und seinen Trägern die ganze mutig hervorbrechende Originalität des Dichters. Im Parallelismus der beiden Kronprätendenten, die das Stück beherrschen, Hakons und Skules ist der tiefgreifende Kontrast, nicht bloß auf hell und dunkel, auf Reinheit und Beflecktheit des Wesens, sondern vor allem auf die große innere Glaubensfrage der Persönlichkeit gestellt, wie sie allen späteren Stücken Ibsens zu Grunde liegt. Hakon ist der geborene König, nicht etwa durch die Legitimität, die durch die letzte Niedertracht des Bischofs Nikolas in ewige Zweifel gehüllt wird, sondern weil er vom ersten Moment an sich selbst glaubt und nie in diesem Glauben irre wird, weil die Natur ihn auf einen Königsgedanken leitet, den nichts in ihm erschüttern kann. Und Jarl Skule, der alles für den König zu besitzen scheint, die Einsicht, die Klugheit, die Tapferkeit und ein gleiches Maß von Recht wie sein Rivale, bestreitet und zerstört sich selbst sein heiß ersehntes Königtum, weil seine Seele der Skepsis verfallen ist, weil er nichts Ganzes denken und vollbringen kann, weil er zu den «ungesunden Zweiflern» gehört, die «an ihrem eigenen Zweifel zweifeln». Selbst der Königsgedanke der Einheit zwischen den streitgewohnten Stämmen, den er zuletzt dem Gegner entwenden will, verliert seine Kraft in der unglücklichen Natur, die keinen Glauben an sich selbst hat. So kündigt sich in dieser Heroentragödie schon der Dichter der «Gespenster» und der «Wildente» an, der in die Tiefen der angebornen Anlage hineinleuchtet und die Tragik der Naturen aufweist, die nur die Täuschung ertragen können und denen jedes Ringen nach Erkenntnis verhängnisvoll wird. Noch steht Ibsen hier unverkennbar im Zuge des nationalen und politischen Pathos, das später gegen die Fragen der Individualität, gegen die Betrachtung der Lebenssphinx des Verhältnisses zwischen Mensch und Universum ganz bei ihm zurücktritt, und schon drängt sich das eigenartige individuelle Problem mit unheimlicher Macht in den Linienzug der geschichtlichen Komposition hinein. Noch erfreut sich der Dichter am heroischen Vollton, und schon läßt er auf der Höhe der Konflikte, wie in den Zwiegesprächen den Prätendenten und wie in der Unterredung zwischen Skule und dem Skalden seine für ihn charakteristische haarscharfe Dialektik hineinspielen, in der das ganze Problem auf der Schneide kurzer tiefsinniger Merkworte schwebt. Es ist eine Fülle von Eindrücken, die sich gleichsam aus zwei mächtigen Strömen in das Stück hinein ergießt. Wir haben im Bereiche der Historie nicht viel gleich Mächtiges, wie die Sterbeszene des Bischofs Nikolas, wie die entscheidenden Begegnungen der beiden Helden, wie das Verhältnis der Frauen zu den Streitenden, und wir haben nicht viel Feineres in zersetzender Psychologie, die sich in die Tiefen moderner Skepsis versenkt und der Natur jenseits von Gut und Böse beizukommen sucht, als die Tragik jenes Skule, der sich nicht zum Glauben an sich selbst emporzwingen kann. Alle diese Eindrücke fluteten gestern so mächtig heran, daß selbst gewisse Gebrechen der Komposition, die Zersplitterung der Szenen, die allzu häufige Wiederholung ähnlicher Gegenüberstellungen, der Mangel an sicherer dramatischer Ökonomie, in der es Ibsen später zur höchsten Meisterschaft brachte, die Gesammtwirkung des Bedeutenden nicht abschwächen konnten.

Ja, die Leuchtkraft, die dem Kern der Dichtung innewohnt, siegte sogar über manche starke Verdunklungen, die von der Aufführung ausgingen. Die Frische der Intention, die mutige Liebe zur Sache, die man am Neuen Theater schätzt, waren auch diesmal nicht zu verkennen. Sie betätigten sich namentlich in einer im großen und ganzen tüchtigen Inszenierung, die fast überall die Stimmung wahrte und im nächtlichen Straßenkampf des vierten Aktes sogar ein Bild von eigenartigem Stimmungszauber bot, und in der Durchbildung der Ensembleszenen. Aber den einzelnen Kräften war diesmal manches aufgebürdet, was sie nicht tragen konnten. Herr Kayßler, der als Hakon stark in den Vordergrund trat, lebte sich erst allmählich in den Charakter hinein. Für den Beginn fehlt ihm das Siegfriedhafte, die blanke Stimme, der persönliche Zauber des «reinen Toren», der an seinen Stern glaubt. Später, in den Kämpfen, in denen der Zuversichtliche die Kraft streitend aus sich herausarbeitet, hatte er viele glückliche Momente: so legte er besonders in die Szene, in der Hakon die alte Herrschermaxime Skules, das divide et impera, mit Verachtung von sich weist, viel gesammelte Energie. Herr Wüllner, ein trefflicher Sänger, der, ein Skule der Schauspielkunst, nach dem Kranze des Mimen trachtet, macht es dem Kritiker schwer, sein Amt auszuüben. In der Art, wie er die überaus schwierige die höchste Darstellungskunst herausfordernde Rolle des Skule durchführte, lag viel unverkennbare Intelligenz, viel verständnisvolles Interpretentum, aber noch mehr Unvermögen, dem eigenen Wollen gerecht zu werden. Die Natur sträubte sich gegen die Forderungen des Geistes. Der Sänger, der die Nuancen des musikalischen Tons beherrscht, verfügt nicht über das reiche Farbenspiel der Rede. Er wurde eintönig, so sehr er sich mühte, jeder Situation gerecht zu werden. Man sah seine Anstrengung, durch gebeugte Haltung, fragenden Blick und suchende Bewegungen den Zweifel zu markieren; aber diese Gesten banden ihn und für den Reichtum der Affekte fehlte ihm die Freiheit. Ein- und das anderemal gelang ein starker Ausbruch der Erregung; aber in der entscheidenden Szene des vierten Aktes versagte die innere schauspielerische Kraft so entschieden, daß sogar die Stimmung des Abends vernehmbar getrübt wurde. Auch Herr Reinhardt, dieser kluge, feine Darsteller, der alles bewältigt, was dem Scharfsinn und Spürsinn erreichbar ist, stand als Bischof Nikolas nicht auf der Höhe. So lange nur die cynische Klugheit, die höhnische Überlegenheit den Ton angibt, war er vortrefflich; der kleine Beherrscher der Fürsten mit der dünnen, hohen Stimme des «Halbmannes», der souveräne Cyniker war durchaus glaubwürdig. Als aber in der Sterbeszene die dämonische Gewalt des unheimlichen Strebers hervorbrechen sollte, der mit Gott und der Natur den Kampf aufnimmt, langte das geistreiche Spiel der Schlauheit nicht aus; hier müßte eine überstarke Persönlichkeit einsetzen, um dem an Gegensätzen so reichen Kolorit der ungeheuerlichen Szene gerecht zu werden und das diabolische Menschenkind, das mit Himmel und Hölle spielt, zu veranschaulichen. Zu den Besten des Abends zählten Frl. Höflich, die für die unerschütterliche, weiblich königliche Demut der Gattin Hakons einen trefflichen Ton fand, Frl. Durieux, die der Kassandra ähnlichen Sigrid gerecht wurde und Herr v. Winterstein, der die bedeutenden Reden des Skalden voll zur Geltung brachte. Es gab Momente tiefgreifender Wirkung, wenigstens in den (bis 11 Uhr währenden) vier Akten, denen ich beiwohnte. Aber die höchste szenische Wirkung, die den «Kronprätendenten» vorbehalten bleibt, war an diesem Abend nicht erreicht.

A. K.
Publisert 9. apr. 2018 13:56 - Sist endret 9. apr. 2018 13:57