Anna Benfey

Et dukkehjem i Wilhelm Langes tyske oversettelse anmeldt av Anna Benfey i Die Literatur. Monatshefte für Dichtkunst und Kritik i Berlin februar 1880 (1. Jahrgang. – 2. Heft, s. 102-106).

«Nora» von Henrik Ibsen.

Besprochen von A. Benfey.

Das neueste Schauspiel von Henrik Ibsen*) steht auf den ersten Anblick da wie eine Sphinx, deren nicht gelöstes Räthsel die Menge, die ein wohlfeiles, die Neugierde befriedigendes, letztes Wort verlangt, stutzig macht, beunruhigt und vielleicht gar ihren Zorn erregt. Würde die Sphinx ihr letztes Wort klar ausgesprochen haben, so wäre der Sturm nicht nur vielleicht entfesselt worden. Denn mit der sicheren Ruhe und scheinbaren Grausamkeit eines Arztes wird hier eine faule Stelle im Fleische blosgelegt, an der unsere Gesellschaft heimlich krankt, so sehr sie äußerlich das Maal zu verbergen sucht, und es mit den Schleiern der Wohlanständigkeit, ja der Heiligkeit zudeckt. Es ist kein schreiender Nothstand, keine der brennenden socialen Fragen, für die der Dichter die Lösung sucht. Es ist ein tief innerliches Problem, das tiefste und innerlichste des Lebens überhaupt, um welches es sich handelt, um das Verhältniß zwischen Mann und Weib, um die seelischen Rechte der Geschlechter innerhalb der Ehe. Von einem Conflict, für den die äußeren Gesetze vorgesehen hätten, ist hier nicht die Rede. Die Familie, in die uns der Dichter einführt, ist eine glückliche, sogar sehr glückliche Familie. Der Mann arbeitet redlich, um sich und den Seinen ein behagliches Loos zu bereiten, die Frau ist die lachende Sonne, die «singende Lerche» des fröhlichen Heims, die drei kleinen Kinder sind gesund und hübsch, selbst die Dienstboten sind zuverlässig, und der Hausfreund treu und ergeben. Wer wollte an einer solchen Musterfamilie etwas auszusetzen finden? wer sie, die wohlgeordnete, nicht den gesunden Untergrund unseres wohlgeordneten Staates nennen? wer möchte sich unterstehen, ihre Basis als morsch zu bezeichnen, an der Echtheit der zur Schau getragenen Harmonie zu zweifeln? wer wäre kühn genug, es laut auszusprechen, daß ihr eine sittliche Wiedergeburt von Nöthen sei? Der Dichter wagt es, denn für sein wahrheitdurftiges Auge giebt es kein Vertuschen, nicht die Autorität unserer gesammten Gesetzgeber auf staatlichem wie moralischem Gebiete kann ihn überreden, den Schein für das Wesen zu nehmen, und sich zufrieden zu geben, wo nur dieser gewahrt blieb. Er deutet auf den Wurm, der das Innere der äußerlich glatt erscheinenden Frucht aushöhlt. Er erklärt das zur Schau getragene Glück dieser Familie für nichtig, solange sie sich nicht auf einem anderen Untergrund erhebt. Denn der, aus dem sie hervorwuchs, auf dem sie sich aufbaut in ihrer unangezweifelten Unantastbarkeit ist der Egoismus des Mannes, die Gedankenlosigkeit der Frau.

Einen modernen Adam, eine moderne Eva möchte ich den Helden und die Heldin des Gedichtes nennen. Keine Besonderheit, keine eigenthümliche Richtung ist hervorgehoben. Er ist Mann, sie ist Frau. Nur das uns Allen Gemeinsame im Guten wie im Schlimmen ist in Beiden verkörpert, und insofern sind sie Normalmenschen im höchsten Sinne des Wortes. Auch dieser moderne Adam und diese moderne Eva scheinen in einem Paradiese zu leben, aus dem sie die Erkenntniß vertreibt. Aber dieses Paradies war nur ein trügerisches, und der Erkenntniß, daß es ein solches war, folgt die freiwillige Verbannung, und der Entschluß, in bewußter Entsagung sich die Rückkehr in das wahre Paradies, in dem der Mensch durch sittliche Kraft das Uebel überwindet, zu erkämpfen.

Robert Helmer, Advokat, hat mit seiner Gattin Nora in nie gestörtem, glücklichem Einvernehmen gelebt. Sie ist schön, und er ist verliebt in ihre Schönheit, sie ist talentvoll, und er ist stolz auf ihre Talente, sie ist ein ausgelassenes, unbesonnenes, scheinbar sehr kindisches Kind, und es schmeichelt seiner Eitelkeit, gegenüber ihrer Ausgelassenheit seine Autorität, gegenüber ihrer Unbesonnenheit seine Umsicht, und gegenüber ihrem kindischen Treiben seine Würde als Mann ihr und sich fühlbar zu machen. Sie ist ihm ein kostbarer Besitz, durch den sein Lebensgenuß erhöht wird, ein Spielzeug, mit dem er seine Mußestunden vertändelt, eine Puppe, die er hegt und pflegt und verschönernd schmückt, damit sie um so mehr sein ästhetisch gebildetes Auge ergötze. Ob diese Puppe auch eine Seele habe, darüber nachzudenken ist ihm noch nie in den Sinn gekommen. Sie ist zu seiner Freude und nur zu seiner Freude auf der Welt, darum auch ist er eifersüchtig auf Alles, was sie ihm nur für Momente entziehen kann. Nora sagt zu ihrer Jugendfreundin:

«Siehst Du, Robert liebt mich so unbeschreiblich; und deshalb will er mich ganz allein besitzen, wie er sich ausdrückt. In der ersten Zeit war er fast eifersüchtig, wenn ich nur einen meiner Lieben daheim nannte, da unterließ ichs natürlich.»

So hat Nora, die unter der sonnigen Oberfläche eine seltene Tiefe birgt, sich denn gewöhnt, ihr innerstes Empfinden nicht auszusprechen. Und im Stillen kaum sich selbst bewußt meint sie, mit ihrem Manne sei es dasselbe. Auch er habe ihr den tiefsten Grund seiner Seele noch nicht erschlossen. Denn könnte eine große, gewaltige Liebe, so wie sie dieselbe empfindet, sich mit Tändelei begnügen? Wie ein Kind erquickt sie sich sorglos am Duft der Blüthen, welche die geheimnißvoll verschlossene Pforte umranken, die sich ja doch einmal früher oder später eröffnen wird. Und dann muß sich ihr ja der Himmel erschließen. Daß dieser Himmel nur in ihrer Phantasie vorhanden, und jene Pforte trügerisch ein leeres Nichts verbergen könne, an eine solche Möglichkeit denkt sie gar nicht. Aber das «Wunderbare», das sie als den Segen ihres Lebens, als den Lohn ihrer Liebe einst zu entdecken hoffte, soll sich ihr nun in trauriger, verhängnißvoller Weise enthüllen. Sie hat eine Schuld auf sich geladen, die sie ahnungslos, von edelstem Antrieb irre geführt, beging, die sie aber doch in den Augen der Welt zur Verbrecherin stempelt. Die Tragweite ihres Fehltritts wird ihr plötzlich enthüllt. Sie meint nicht anders, als ihr Mann würde für sie eintreten und die Schuld und Buße auf sich nehmen, und da sie nicht weiß, wie sie ihn von diesem Opfer zurückhalten soll, ist sie entschlossen, noch ehe ers vollbringen kann, zu sterben. Wie der magische Schleier, der ihr bisher die Wirklichkeit bedeckte, zerreißt, wie sie erkennt, daß die Welt, in der sie bisher lebte, eine Traum-, eine Scheinwelt war, wie sie mit der Vergangenheit bricht, um sich eine reine Zukunft zu erringen, und in ihrem Aufschwung uns die Hoffnung läßt, daß auch der Gatte ihr folgen werde, giebt auch sie eine Illustration zu den Schlußworten des Faust: «Das Ewig-weibliche zieht uns hinan». Aus dem Gewebe von falschem Schein, unwahrer Bemäntelung, in dem unsere moderne Gesellschaft hier wie auf anderen Gebieten versunken scheint, kann nur der Muth der Wahrheit retten, nicht der bedingten Wahrheit, die sich auf die vom Verstande verkündigten Gesetze und Grundsätze stützt, sondern der Wahrheit des Herzens, die heute und zu allen Zeiten dieselbe bleibt.

Den großen seelischen Inhalt sehen wir in dem einfachsten und einheitlichsten Bilde verkörpert. Neben der Einheit der Handlung ist auch die Einheit des Ortes und der Zeit (in etwas weiterem Sinne gegriffen, da die Begebenheit sich in drei aufeinanderfolgenden Tagen abspielt) gewahrt.

Wir lernen Nora am Mittag des 24. December kennen. Sie ist mit den Vorbereitungen zum Christabend beschäftigt. Die Freude des Festes wird diesesmal noch erhöht, denn Helmer, der mit Beginn des neuen Jahres seine Stelle als Director einer Bank antritt, ist nun der engen Beschränkung überhoben, in die er sich bisher mit seiner Familie zu fügen hatte. Nora schüttet ihr Herz Frau Linden, einer seit zehn Jahren nicht gesehenen Jugendfreundin, gegenüber aus, und jubelt, daß nun ein behaglicher Wohlstand allen Entbehrungen ein Ende machen werde. Diese, die einen ungeliebten Mann heirathete, um einer alten Mutter und zwei jüngeren Brüdern eine Stütze zu sein, und nach des Gatten Tod in harter Arbeit sich für die Ihrigen weiter mühte, horcht lächelnd auf den Bericht dieser leichtherzigen Freuden und kleinen Leiden. Nora fühlt sich ihrer stillen Ueberlegenheit gegenüber gereizt, und vertraut ihr das Geheimniß ihres Lebens an. Sie ist nicht das Kind, für das sie Alle halten, sie hat eine große und gute That heimlich vollbracht, sie hat ihres Mannes Leben gerettet, darf sie nicht stolz sein? Es ging ihnen im Anfang ihrer Ehe dürftig genug, ihr Mann mußte sich über Gebühr anstrengen, erkrankte, und die Aerzte verordneten ein südliches Klima als einzige Rettung. Aber woher das Geld zu einer italienischen Reise nehmen? Es zu leihen war gegen die Grundsätze des in dieser Beziehung streng denkenden Advokaten. Da schaffte Nora die erforderliche Summe. Sie gab vor, es sei das Erbe ihres Vaters, der gerade um jene Zeit starb. Seitdem ist sie unablässig zu sparen und zu arbeiten bemüht, um die Zinsen und die Schuld so nach und nach, ohne daß ihr Mann davon erfährt, abzutragen. Die Freundin macht sie umsonst auf das Unerlaubte in dieser Heimlichkeit aufmerksam. Nora hält die nöthigen kleinen Ausflüchte und Schleichwege, weil sie einer guten Sache dienen, für gerechtfertigt. Sie wird ihrem Gatten gegenüber das Geheimniß, das ihre Freude und ihr Stolz ist, nicht preisgeben, es würde auch sein «männliches Selbstbewußtsein verletzen, zu wissen, daß er ihr Etwas verdanke, und ihr gegenseitiges Verhältniß ganz verschieben.»

Aber derjenige, von dem Nora die Summe erhielt, Günther, früher gleichfalls Advokat, der jedoch, seit ihm seine Carriere durch eine unehrenhafte Handlung abgeschnitten worden war, zu zweideutigen Geschäften seine Zuflucht nahm, bekleidet eine Stelle an der Bank, an der Helmer Director geworden. Er sucht sich durch pflichttreue Arbeit aufs neue in der Achtung der Gesellschaft zu rehabilitiren. Der kleine Posten sollte die erste Stufe seines Aufsteigens sein! Nun erhält er unerwartet seine Entlassung. Helmer mag ihn nicht neben sich dulden. Er hatte ihn einst Freund genannt, er wird von ihm gedutzt, und das Bekanntwerden dieser Vertraulichkeit mit einem Menschen von zweifelhaftem Ruf ist ihm fatal. Aus diesen Gründen soll seine erste Amtsthätigkeit innerhalb der neu angetretenen Stellung die Entlassung des einstigen Collegen sein. Nun wendet sich dieser an Nora, und verlangt von ihr, daß sie ihren Mann zur Abänderung seines Entschlusses bestimmen solle. Nora weist das Ansinnen entrüstet zurück. Sie weiß, daß ihr Mann ihr nicht gestattet, in seine geschäftlichen Angelegenheiten sich einzumischen. Und dann welches Recht hat Günther, Anforderungen an sie zu stellen? Die Summe, die sie ihm schuldet, wird sie ihm nun, da ihre Verhältnisse gebessert, zurückzahlen können. Da erklärt ihr Günther, daß er mehr Macht über sie habe, als der Gläubiger über seinen Schuldner. Er verlangte damals, daß sie einen Bürgen stelle. Sie versprach, daß ihr Vater haften würde, und dessen Unterschrift befindet sich auch auf dem Dokument. Aber diese Unterschrift ist gefälscht. Nora, die ihrem mit dem Tode ringenden Vater die Angelegenheit nicht mehr mittheilen konnte, wußte sich nicht anders zu helfen. Sie gesteht das ruhig ein und begreift nicht, wie ihr die Liebe zu ihrem Gatten, die kindliche Rücksichtnahme auf die Ruhe des Sterbenden zum Verbrechen ausgelegt werden können. Doch von einer dunkeln Angst getrieben, legt sie bei ihrem Manne das erbetene Fürwort ein. Als dieser sie schroff zurückweist, und den früheren Fehltritt Günthers, der dem von Nora begangenen entspricht, unerbittlich verdammt, geht dieser endlich eine Ahnung auf von dem Verhängniß, das sie über sich und die Ihren heraufbeschworen.

Günther erhält seine Entlassung. Da bei einer wiederholten Zusammenkunft mit Nora er diese entschlossen findet, eher zu sterben als ihren Mann in die Gemeinschaft mit einem Unwürdigen herabzuziehen, entschließt dieser sich, die Pression auf Helmer selbst auszuüben. Einen Brief, in dem er die ganze Angelegenheit mittheilt, wirft er, ehe er geht, vor Noras Augen in den Kasten. Nun ist Alles verloren. Da kommt ihr Frau Linden zu Hilfe. Günther und sie haben sich einst geliebt. Daß der Mann sich in seinen heiligsten Gefühlen verrathen wähnte, führte ihn auf die abschüssige Bahn. Sie kennt ihren Einfluß auf ihn und wird ihn bestimmen, seinen Brief unerbrochen zurückzufordern. Aber Günther ist bis zum Abend des folgenden Tages verreist, es kommt also darauf an, Helmer zu überreden, daß er bis dahin den Briefkasten nicht öffne. Der erste Weihnachtstag, ein für den folgenden Abend anberaumter Maskenball kommen Nora zu Hilfe. Mit Schmeicheln und Bitten überredet sie ihren Mann, daß er, bis das Fest vorüber, sich aller Geschäfte enthalte und nur ihr angehöre. Er muß ihr das Costüm wählen, ihr die Tarantella, die sie in Capri erlernte, neu einstudiren. Und mit der furchtbaren Angst im Herzen, mit dem Entschluß, falls die Umstimmung Günthers nicht gelinge, die morgige Mitternacht nicht zu überleben, dreht sie sich im tollen Wirbel des feurigen, südlichen Tanzes, und ihr Gatte, der mit kritischem Auge ihren Bewegungen folgt, unterstützt sie mit seinen Weisungen, um die Wirkung des einem weiteren Kreise zugedachten künstlerischen Genusses zu erhöhn.

Dritter Aufzug. Man hört die Festesklänge (der Maskenball ist bei Freunden im oberen Stockwerk) gedämpft herunterschallen. Frau Linden sitzt allein in der Wohnstube und erwartet den zurückkehrenden Günther. Er kommt, und sie giebt ihm mit der Jugendgeliebten auch die besseren Gefühle seiner Jugend wieder. Er will nun natürlich den Brief zurückverlangen. Frau Linden verhindert dies, denn sie hält es für nothwendig, daß das Ehepaar aus seinem unwahren Verhältniß zu einander herauskomme. Allein erwartet sie die Beiden. Die widerstrebende Nora wird von ihrem Manne fast mit Gewalt in das Zimmer geschleppt. Er hält ihr ängstliches Flehen um nur noch eine halbe Stunde längeren Festgenusses für Laune und Eigensinn, die seiner besseren Einsicht zu weichen haben. Der rasche Abgang nach der zum Entzücken der Anwesenden getanzten Tarantella mußte ihm noch den eingeernteten Triumph erhöhen. Und dann, er sehnt sich nach Alleinsein mit seinem Weibe. Das Schauspiel hat seine Leidenschaft entflammt: «Du hast noch die Tarantella im Blut, merk ich. Und das macht Dich noch verführerischer.» Aber sie entzieht sich ihm. Der Hausfreund, Dr. Rank, unterbricht sein Liebeswerben. Der an einem unheilbaren Uebel hinsiechende Mann «gab mit seinem Leiden und seiner Vereinsamung gleichsam einen bewölkten Hintergrund für unser sonnenhelles Glück ab», wie Helmer von ihm sagt. Rank kennt als Arzt seinen Zustand und hat für den Fall, daß seine Auflösung nahe, Nora eine kurze Benachrichtigung versprochen, damit Helmer, der bei «seiner feinen Natur und seinem so ausgeprägten Widerwillen gegen Alles, was häßlich ist, sein Krankenbett meide». Nun läßt er seine Visitenkarte, mit einem schwarzen Kreuze bezeichnet, zurück. Dieser Todeshauch entnüchtert auch Helmer. Er zieht sich mit den Briefen, die er, da die Zeit seiner Geschäftsenthaltung vorüber, dem Kasten entnommen, in sein Zimmer zurück.

In dem Moment als Nora, ohne Abschied von Mann und Kindern genommen zu haben, hinausstürzen will in die kalte Nacht, um ihren Tod zu suchen, reißt Helmer die Thür auf und steht da mit einem offenen Briefe in der Hand.

Ein gewöhnlicher Schauspielschreiber hätte die Geschichte nun mit einem häuslichen Sturm, mit darauf folgender Versöhnung und einer durch rasch gefaßte, gute Vorsätze eröffneten Perspective auf eine wolkenlose Zukunft beendigt. Aber dem Dichter war es nicht darum zu thun, eine spannende Novelle mit befriedigendem Ausgang zu schreiben. Die Wichtigkeit der Begebenheit kommt bei ihm erst in zweiter Linie. Sie dient nur dazu, um innerhalb ihrer die Charaktere sich entfalten zu lassen. Und zu diesen psychologisch vertieften und lebenswahren Menschen paßt kein Schicksal, wie es die gutmüthige Phantasie eines weltverbessernden Poeten zu erfinden pflegt. Sie tragen ihr Geschick in der eigenen Brust und nach den Gesetzen eherner Nothwendigkeit müssen sie es erfüllen.

Helmer unterliegt dieser ersten, seiner Liebe auferlegten Probe. Sein Gefühl war Egoismus, wie sollte es ihm die Kraft verleihen, sein Selbst für ein anderes aufzuopfern. Anstatt, wie Nora es fürchten zu müssen glaubte, die Schuld auf sich zu nehmen, überschüttet er sie mit den bittersten Vorwürfen. Er denkt keinen Augenblick daran, warum sie es gethan und wie sie schon gebüßt, er sieht nur seinen Ruf, seine Stellung compromittirt, und überlegt, was ihnen übrig bleibe, um wenigstens den Schein zu retten. Da erkennt Nora ihn, da entdeckt sie mit Schaudern, daß hinter jener verschlossenen Pforte, hinter der sie den Himmel der Liebe verborgen glaubte, ein kaltes Nichts lauert, der krasseste Egoismus, der die Menschen und Dinge, die ihn umgeben, nur danach schätzt, welchen Genuß sie ihm bereiten, und inwiefern sie die Annehmlichkeit des Lebens zu erhöhen taugen. Vor dieser Gefühlsrohheit und Leere erstirbt ihre Liebe. Umsonst ist es nun, daß die äußere Schwierigkeit gehoben wird (Günther in seiner Sinneswandlung sendet den Schein ohne jede Bedingung zurück) und daß der Gatte, nun die Gefahr vorüber, das alte Verhältniß unerschüttert glaubt. Nora hat es zu klar empfunden, daß er, mit dem sie seit Jahren lebte, ihr innerlich ein Fremder geblieben ist. Sie wird ihn verlassen und nie zurückkehren, es müßte denn das «Wunderbarste» geschehen, und auf seine Frage, was dieses «Wunderbarste» sei, erwidert sie: «Dann müßten wir beide, Du sowohl wie ich, uns so verändern, daß ein Zusammenleben zwischen uns beiden eine Ehe werden könnte.»

Dies der Inhalt des einfachen und dabei so tiefsinnigen Schauspiels. Neben Nora und Helmer lernen wir noch Frau Linden und Günther kennen. Mit diesen Beiden kann ich mich nicht einverstanden erklären. Einestheils scheint es, als ob diese Personen entsprechend den Hilfsmitteln der Decoration oder Beleuchtung nur vorhanden seien, um die bestimmten und nothwendigen Situationen für die Hauptpersonen herbeizuführen. Andererseits scheinen sie selbst Etwas sagen zu wollen, und man wird sich nicht recht klar darüber, was das eigentlich sei. Wie wir in Nora ein Problem wieder aufgenommen sehen, das Ibsen bereits früher andeutete (Selma Steilberg in dem Lustspiel «Der Bund der Jugend», deutsch von A. Strodtmann. Berlin, Pätel) so sehen wir in Günther flüchtig auf ein anderes hingewiesen, das der Dichter in der «Stützen der Gesellschaft» schon ausführlich behandelt, wenn auch nicht befriedigend gelöst hat. Auch hier sehen wir einen Mann sinken, weil er in sich selbst des moralischen Haltes entbehrt, den er dann an der Hand einer edeln Frau wiederfindet. Aber abgesehen davon, daß hier in der flüchtigen Andeutung die Entwickelung forcirt erscheint, welchen Zweck hat es, dieses Paar dem anderen gegenüber zu stellen? Bei jenem hatte sich der sogenannte moralische Halt als hohl und trügerisch erwiesen, hier, nachdem der Mangel höchst verhängnißvoll wirkte, wird das Gleichgewicht allzuleicht wieder gewonnen. Diese Nebeneinanderstellung ist nur dazu angethan, die erweckten Ideen zu verwirren. Und die strenge Untersuchung auf den inneren Zweck der äußeren Erscheinungen ist dem Dichter gegenüber wohl erlaubt, der es, wie Ibsen, vermag, nicht nur glatte Wirklichkeit oder abstracte Gedanken entweder zu bringen, sondern beide in eins zu verschmelzen. Dr. Rank hingegen ist ebenso glücklich erfunden, wie hingestellt. Er repräsentirt gewissermaßen den Chor der Alten. In seiner völligen Abgetrenntheit von der Welt, für die er verloren ist, sehen wir in ihm den leidenschaftslosen Spiegel, in dem die bewegte Handlung reflectirt wird. Daß auch er einmal in die Leidenschaft, wenn auch nicht in die Handlung hineingezogen wird, rückt ihn uns menschlich näher.

Noch ein paar Worte über die Darstellung und Bühnenwirksamkeit. Was erstere betrifft, so werden hier einmal wieder unsere Schauspieler bedeutende und neue Aufgaben zu bewältigen finden. Das sind keine Rollen, die nach der Schablone zu behandeln wären, jeder dieser Menschen will in seinem innersten Kern erkannt und von da aus in seiner äußeren Erscheinung gestaltet sein. Der seinen psychologischen Vertiefung des Dichters muß nachgespürt werden, der innere Zusammenhang des äußerlich sich Widersprechenden muß gefunden werden. Die Doppelnatur in Nora wie in Helmer muß scharf betont werden, ohne daß jedoch dadurch ein Riß entstünde. Es ließen sich diese Rollen mit Kommentaren versehen wie man sie nur je zu den großen Fragezeichen der Classiker schrieb. Doch dürfen wir uns getrost gedulden, denn die Richtung unseres schauspielerischen Strebens kommt von selbst diesen psychologischen Aufgaben entgegen. Was die Bühnenwirksamkeit betrifft, so wird sie, wenn der Reichthum der Handlung nicht in bunter, ruheloser Bewegung, sondern in wechselnder und sich bekämpfender Erregung der Affecte besteht, eine ungewöhnliche sein. Hier ist auch äußerlich viel gethan, und der Widerspruch der festlich friedlichen Weihnachtsstimmung mit Noras verborgener Seelenangst, die Tarantella, die sie gewissermaßen auf ihrem Grabe tanzt, würde man gesuchte Effecte nennen, wenn sie nicht so nothwendig aus der Handlung hervorwüchsen.

Das Stück, das in den drei Hauptstädten der skandinavischen Reiche bereits zur Aufführung gelangte, wird auch bei uns in Deutschland überall dort seinen Einzug halten, wo ihm die Besetzung der Titelrolle keine unüberwindliche Schwierigkeit in den Weg legt. Mancher Widerspruch wird laut werden, denn die selbstzufriedene Majorität pflegt es übel zu nehmen, wenn man ihr dort, wo sie sich tugendhaft wähnte, ein moralisches Deficit nachweist. Wenn sich aber Einer oder der Andere getroffen fühlt, so beweist das nur, daß das aufgestellte Problem auf der Tagesordnung steht. Und der Dichter, der ein solches mit dem Muth der Wahrheit bloslegt und es vom höchsten Standpunkt aus zu lösen versucht, wird wieder wie in den Kindertagen der Menschheit, wo höchste Begabung die höchsten Pflichten auferlegte, ein Richter und Gesetzgeber edlerer Sitten für die Völker, die ihm lauschen, werden.




*) Der Originaltitel lautet: «Et Dukkehjem» (Ein Puppenheim). Die Uebersetzung unter obigem Titel von Wilhelm Lange erschien in Reclams Universalbibliothek.
Publisert 22. mars 2018 14:06 - Sist endret 22. mars 2018 14:08