Signaturen «E. S.»

Nora på Berliner Theater anmeldt av signaturen «E. S.» i Berliner Börsen-Zeitung 29. april 1892.

Kunst und Wissenschaft.

Soweit die Meinungen über Henrik Ibsen im Allgemeinen, so gehen sie im Besonderen weit auseinander über seine «Nora», die uns gestern im Berliner Theater wieder einmal vorgeführt wurde. Nach den Ibsen-Schwärmern ist der nordische Skalde mit diesem Drama der Verkündiger eines neuen Evangeliums geworden, und in der That wird Niemand bestreiten wollen, daß im Gegensatze zu den sanften Heinrichen der Bühne, der rauhe Henrik damit etwas Neues auf die Bretter gebracht hat. Die herkömmlichen Komödien schließen mit fröhlicher Verlobung, womöglich gleich mit einem Vierteldutzend, und dem löblichen Publicum eröffnet sich der Ausblick auf lauter Ehehimmel voller Geigen. Nun weiß ja Jeder, der es durchgemacht hat oder noch durchmacht, daß mit dem Standesamt, welches anscheinend dem Bunde das Siegel ewigen Glückes aufdrückt, erst die wirklichen Conflicte beginnen, die ernsten Sorgen des Lebens anheben, gegen welche die Plänkeleien der Verliebten und Verlobten ein thörichtes Kinderspiel sind. Also gut, dem heiteren Schwanke des Zusammengebens folgt unfehlbar das Schauspiel, das Intriguenstück oder gar die Tragödie des Zusammenlebens. Dagegen läßt sich nicht das Geringste einwenden, und ein Dichter der auf solcher realen Voraussetzung sein Stück aufbaut, befindet sich durchaus im Rechte. Es fragt sich nur in welcher Art er seine Folgerungen zieht, und während wir bis dahin Ibsen in seiner Nora unbedingt zugestimmt haben, können wir ihm weiterhin nicht folgen. Gewiß, der Advocat Helmer ist trotz seiner hausbackenen Biederkeit ein schnöder Egoist, dem sein Weib nichts als eine hübsche Puppe bedeutet, und wenn Nora, zur Erkenntniß ihrer unwürdigen Stellung gelangt, den Mann verachtet, der sie in bitterster Seelenqual im Stiche ließ, so ist dies durchaus gerechtfertigt. Aber Nora ist nicht nur Gattin, sondern auch Mutter, und als solche hat sie höhere Pflichten. Wir können es begreifen, wenn ein Weib, bisher «verkannt», in ungestüm entfachter Leidenschaft Mann und Kinder verläßt, um in bisher nicht empfundenem Glücke sich zu berauschen, aber für Noras exaltirtes Beginnen fehlt jede Erklärung. Wohl hat sich ihr Gatte als ein kläglicher Schwächling enthüllt, und ein weiteres Zusammenleben mit ihm muß ihr qualvoll sein, doch neben dem ihr nunmehr verächtlichen Manne stehen drei Kinder in zartem Alter. Aber nur dem Gefühle des verletzten Stolzes, des Widerwillens Raum gewährend, dreht Nora ihrem «Puppenheim», ihren Kindern den Rücken, mit denen wir sie vorher so zärtlich tändeln gesehen ein Ungeheuer von Mutter! Dem berühmten Hebbelschen Worte: «Darüber kann kein Mann hinweg!» läßt sich ein anderes entgegenstellen: «Darüber darf kein Weib hinweg!» und in dieser Sache dürften auch alle einverstanden sein mit Ausnahme derjenigen, welchen nicht zu helfen ist: die Allerjüngsten und Allerneusten, die für sich einen besonderen Moralcodex ersonnen haben, weit erhaben über die Sittlichkeitsbegriffe der abgewirthschafteten Gesellschaft von heute. Doch wie man auch über das Stück denken möge, die scenische Wirksamkeit wird man ihm nicht abstreiten, und sie verhalf, von einer ausgezeichneten Darstellung getragen, der gestrigen Aufführung zu einem stürmischen Erfolge. Frau Sorma hat vielleicht nie eine bedeutendere Leistung geboten als gestern mit ihrer Nora. Berückend in der Wiedergabe des kindischen Wesens, wie wir es zuerst in der «kleinen Lerche» kennen lernten, brachte die Künstlerin sodann die stets wachsende qualvolle Angst und die jäh hervorbrechende Verzweiflung zu ergreifendem Ausdruck. Nicht selten klang lebhafter Beifall mitten in das Spiel hinein, und bei den Actschlüssen bekam er einen enthusiastischen Anstrich. Auch die übrigen Mitwirkenden hatten ihren schönen Antheil an dem Triumph. Hr. Kraußneck gab den selbstgerechten, vom Bewußtsein der eigenen Trefflichkeit durchdrungenen Helmer meisterhaft, und den im höchsten Stadium seiner Krankheit befindlichen Rückenmärker veranschaulichte Herr Stahl beinahe unheimlich gut. Ebenfalls vorzüglich, bis in die kleinste Einzelheit fein durchgeführt war auch die Christiane Linden des Fräulein Butze, während allerdings der Günther des Herrn Suske ein wenig an den herkömmlichen Theater-Bösewicht erinnerte. Der Mann ist ja nicht grundschlecht, sondern hat sich wirklich noch ein Stückchen Herz bewahrt, das jedoch erschien im Munde des Darstellers nur wie eine Redensart. Im Ganzen genommen aber war die gestrige Vorstellung eine der besten und abgerundetsten, die wir je im Berliner Theater gesehen, völlig werth des einmüthigen, starken Beifalls.

E. S.
Publisert 2. apr. 2018 14:14 - Sist endret 16. apr. 2018 11:07