Otto Brahm

Rosmersholm ved Residenz-Theater Berlin anmeldt av Otto Brahm i Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Litteratur i Berlin 14. mai 1887 (Nr. 33, 4. Jahrgang, s. 498-500).

Rosmersholm.*)

(Residenz-Theater.)

Ibsens jüngstes Drama schließt sich, in Technik und Komposition, der Weise seiner «Gespenster» nahe an: während die beiden Werke, die chronologisch zwischen diesen und jenem liegen, «Volksfeind» und «Wildente», eine lebhaft bewegte Fabel zeigen, mit zahlreichen Figuren, vorwärtsstrebender Aktion, spielen «Gespenster» und «Rosmersholm» zwischen ganz wenigen Menschen sich ab, aus der Vergangenheit steigt ein Verborgenes, Todtgeglaubtes auf und hinter dem gegenwärtig Geschehenden, nur allmählich durchschaut und erkannt, liegt, was die äußere und innere Handlung in Bewegung setzt. Für diese analytische Führung des Dramas hat Ibsen einen ganz eigenartigen, ihm allein zugehörigen Stil in sich ausgebildet, der mit Andeutungen, halben Winken und Worten, mit Retardationen und ausgreifenden Beziehungen höchst kunstvoll arbeitet: gleich die ersten Szenen scheinen uns das Geheimniß aufschließen zu wollen, immer von neuem wird unser Sinn auf das Eine, Entscheidende hingeleitet, das sich dann doch wieder der vollen Erkenntniß entzieht: und so verbleiben wir, gespannt und seltsam gefesselt, in einem steten Helldunkel, bis zuletzt doch, in großen aufschlußgebenden Erzählungen, alles Verborgene sich entdeckt, alles Verschleierte sich enthüllt.

Seelendramen sind es, voll reicher innerer Bewegung, die der Dichter so vor uns entrollt; und vielleicht entspricht es dem tiefsten Wesen der modernen Zeit, wenn nur in Gedankenkämpfen, nicht in Handlungen von äußerer Belebtheit, die Helden dieser Tragödien ihr Wollen offenbaren. Andere Menschen stellten einem Shakespeare sich dar, andere Probleme dem Dichter des 19. Jahrhunderts; aber auch Henrik Ibsen, nach seiner Weise, greift aus nach den höchsten Wirkungen der dramatischen Kunst und, den Unterschied der Zeiten recht erfaßt, dürfen wir eine wahrhaft Shakespearesche Konzeption nennen, was in «Rosmersholm» Gestalt gewonnen hat und Bühnenleben.

An Shakespearesche Figuren, an die großartigen Bösewichte, in deren Schilderung die Kunst des Briten triumphirt, gemahnt Rebekka West uns, die Heldin von Ibsens Drama. Durch eine Vergangenheit von Schuld und Sünde hindurch ist sie nach Rosmersholm geschritten: eine thatfrohe, mächtige Natur, von elementaren Instinkten umgetrieben, von keinem sittlichen Zwange gehemmt in rücksichtslosen Begehrungen. Stellung, Macht, Glück will sie erringen, will genießen und herrschen; die erste Familie der ganzen Gegend, die Rosmer auf Rosmersholm sollen ihr zu Dienste sein und nicht zufrieden gestellt von der «Regentschaft im Namen der Hausfrau», die sie bald erringt, strebt sie, von heißer Leidenschaft zu Johannes Rosmer erfaßt, dem letzten Ziele gewaltsam zu: Beate, seine gemüthskranke Gattin, ängstigt sie in den Tod hinein mit arglistigen Worten und falschem Wahn, und die freigewordene Stelle an Rosmers Seite einzunehmen, ist ihr Begehr. Denn in ihr lebt etwas von der ungebändigten Kraft ihrer Vorfahren «da oben in Finnmarken», etwas von dem Glauben an ein Naturrecht, das dem Stärkeren Gewalt gibt über den Schwachen: und nicht nur, weil Beate ihrem Anspruch auf Glück im Wege stand, auch weil der geliebte Mann verkümmerte in der Finsterniß dieser Ehe, trieb es sie an, zu «handeln» nach ihrer Weise und so jagte sie die unglückliche Frau in den Bach, aus der Welt.

Aber nicht bloß die Naturkraft Shakespearescher Gestalten ist Rebekka zu eigen: gewaltig, wie ihre Fähigkeit, zu sündigen, ist auch ihre Macht, zu büßen; und stärker triumphiren nicht die sittlichen Mächte in Macbeths Brust, als sie, da ihre Zeit gekommen, über Rebekka siegen, deren Vorsätze sie zerschellen, deren Wollen sie zertrümmern, und die im Sterben noch die Existenz der ethischen Gewalten bezeugt: an derselben Stelle, wo Beate den Tod gesucht, im Mühlbach von Rosmersholm, findet nun ihr verlorenes Leben das Ziel.

Durch den eigenthümlichsten Kontrast hat der Dichter gewußt, dieses Grundproblem in die Darstellung hinauszutreiben: wie mittelalterliche Vorstellung vita activa und vita passiva einander entgegensetzte, so stellt er, die Repräsentanten zweier großen Lebensmächte, Rosmer und Rebekka hin: die eine die Thatkraft, der andere die Reflexion, die eine der rücksichtslose Wille, der andere die ethische Besonnenheit, in der Sittlichkeit so sicher waltet, wie ein Naturtrieb. Das Kind der freien Liebe tritt entgegen dem Erben eines alten Geschlechts, dessen durch Jahrhunderte vererbte Lebensanschauung in dem letzten Abkommen noch Macht gewinnt: nicht Rosmer, Rosmersholm ist darum der Name des Dramas, und über das Geschick des Einzelnen hinweg, in den Zusammenhang der Generationen strebt der weite Blick des Dichters.

Die in dem Kampf zwischen Rebekka und Rosmersholm, zwischen leidenschaftlicher Lebenslust und strenger Ehrenhaftigkeit siegt, ist die Empfindung verfeinerter Sittlichkeit: an der Seele des Geliebten läutert sich die Sünderin, ihr kecker, froher Wille zerbricht vor der Macht eines reineren und strengeren Fühlens: «das Zusammenleben mit Dir», so bekennt sie dem Freunde, «hat meine Seele geadelt. Die Lebensanschauung der Rosmers adelt. Aber aber sie tödtet das Glück!» Und wie in Rebekka der sittliche Gedanke siegt über ein elementares Glücksverlangen, so siegt er in Rosmer: vielmehr er erwacht von neuem, mit gedoppelter Stärke in ihm, den nur die dämonische Macht Rebekkas zu freieren Anschauungen geführt hatte; und der nun erkennen muß, wie Schuld gegen Beate, Gedankenschuld nur und doch tief empfundene, ihn bedrückt: der Gattin hätte all sein Empfinden gehören sollen, und doch zog es ihn unbewußt, wider Willen, zu Rebekka: ihr strebten seine Gedanken zu, sie nur suchte er, mit ihr zu reden «von all den neuen Dingen». Als er aber inne wird, daß nur die Empfindung seiner neu erwachten Neigung Beate in den Tod trieb, daß sie ging, einer anderen, inniger geliebten den Platz zu räumen, da ist all seine Lebenskraft gebrochen; und wenn es auch in ihm aufflackern will von neuem Muth, wenn er auch strebt, die Leiche von seinem Rücken abzuschütteln zuletzt muß auch er, mit Rebekka vereint, sein Vergehen im Mühlbach sühnen: denn auch sein Glück wird getödtet durch die Lebensanschauung der Rosmer, durch die Schuld der Vergangenheit. Ein symbolischer Sinn scheint, neben dem realen, in diesen Vorgängen, diesen Reden, zu walten: es ist der Gedankenkern der «Gespenster», der sich einen neuen Körper gesucht hat in «Rosmersholm».

Nur wenig würde man einer Konzeption wie dieser Ibsenschen nahe kommen, wollte man sie mit dem Schlagwort des «Realismus» kennzeichnen. Nicht nur, daß das Temperament des Dichters, diese ethische Strenge seiner Empfindung, das Ganze beherrscht auch die Gestalt seiner Heldin wächst, so entschieden sie in der Wahrheit des Lebens gegründet ist, über das Maß der bloß realistischen Kunst hinaus: sie ist überlebensgroß. Und wenn einerseits die Strömungen der modernen Gedankenwelt, die werdenden Anschauungen neuer Lebenserkenntniß den Dichter und seine Gestalten lebhaft fortreißen, so bezeugt er doch auf der andern sein Heimathsrecht in dem alten, ewigen Reiche der Poesie: ein freierer Schwung, bei aller Natürlichkeit der Rede und Gegenrede, durchzieht die Sprache, dichterischer Glanz und Weihe ruhen auf den Szenen des nächtigen Schlusses; und eine Welt des Ueberirdischen scheint von allen Seiten in die reale eingreifen zu wollen.

Auch hier sind diejenigen, deren Beruf es scheint, ästhetische Begriffsverwirrung zu stiften, mit einem Schlagwort eilig bei der Hand gewesen; von Schicksalstragödie reden sie, wie der Blinde von der Farbe. Nur die Unkenntniß und die Oberflächlichkeit vermag, gegenüber solchem Werke, die «Ahnfrau» aus ihrer Klause zu bemühen; weder von spukenden Geistern, noch von fallenden Messern und Houwaldschen «Bildern» ist hier die Rede. Nur aus der Seele der Menschen heraus kommt das Gedenken an die Todte: in der Gestalt phantastischen Aberglaubens bei den Ungebildeten, als ein tief sittlicher Rückschlag bei den Helden. Für die Vorstellung dieser hängt man in Rosmersholm lange an seinen Todten; für die Vorstellung jener sind es die Todten, die an Rosmersholm hängen, und die als jagende weiße Pferde an die alte Stätte ihres Lebens zurückkehren. Das letzte Wort des Stückes, in seiner knappen Fügung, begreift beide diese Anschauungen in einem; denn wenn Frau Helseth, die Haushälterin, spricht: «Die selige Frau hat sie geholt», so empfindet sie das Walten einer spukhaften Macht, wo wir, im Sinne des Dichters, nur die von innen kommende sittliche Vergeltung erkennen. Auch in den Namen seines Helden hat der Dichter märchenhafte Vorstellungen noch hineingeheimnißt: im mittelalterlichen Liede ist Rosmer der Meermann, der die Menschenkinder in die Tiefe lockt; Rebekka aber wird «bezaubernde Nixe» genannt und vergleicht sich selber dem «Meerkobold». Allein den Boden des Realen verläßt auch an solchen Stellen das Drama nicht; sie sind nur wie eine geheimnißvolle Melodie, die die Dichtung von Ferne, leise, leise, begleitet.

Ein Werk von so tiefem Gehalt gibt der Darstellung schwere, doch schöne Aufgaben: wie viel schauspielerische Anregung, welchen reichen Gewinn für alle müßte es bieten, wenn die ersten deutschen Künstler ihre Kraft an ihm erproben dürften! Die Darsteller des Residenz-Theaters haben mit Hingebung alle, wenn auch nicht mit gleichem Gelingen, des Dichters Intentionen zu erfassen gestrebt: leider blieben Frau Wank (als Frau Helseth) und Herr Würzburg (in der Episode des genialischen Ulrik Brendel) in arger theatralischer Konvention stecken, wo Natur und Wahrheit oberstes Erforderniß ist; und der Darsteller des Brendel drückt obendrein diese glänzende Gestalt in eine tiefere, kümmerlichere Sphäre, als der Absicht des Dichters gemäß ist. Fein, diskret und mit eindringendem Verständniß gibt Herr Bornemann die zweite Episode des Stückes, den vorsichtigen Agitator Mortensgård; seine klare Auffassung läßt voll erkennen, mit welcher Lessingschen Kunst in dieser Dichtung das Episodische in den Gang der Handlung entscheidend eingreift. Herr Reicher hat für den Rosmer vielleicht nicht genug Passivität und Weichheit, seine Natur neigt zu dem Männlichen, Festen; aber auch er hat die Intentionen der Dichtung fein erfaßt und gestaltet: das Durchbrechen des Predigerhaften in Rosmer, seine Abhängigkeit von Rebekkas Willen spricht er in Wort und Geberde frei und natürlich ans. Frau Frohn in der Rolle der Rebekka stand am ersten Abend nicht auf der Höhe der Aufgabe, in den Wiederholungen (ich sah die sechste) hat sie ganz außerordentlich gewonnen und stellt nun die fesselndste Leistung hin: das Dämonische, das auf der Gestalt ruht, den ahnungsvollen Hintergrund dieser Schicksale und Thaten deutet sie mit einem Blick, einer Geste bewunderungswürdig an; und wenn sie endlich beginnt zu erzählen, zu beichten, nimmt ihr sympathisches, vibrirendes Organ die Hörer völlig gefangen. Ueber dem Ganzen hat leitend und richtend Director Annos Inszenesetzung gewaltet: ihm gebührt der aufrichtigste Dank, daß er nun zum zweiten Male ein Werk dieses Dichters auf die Bühne gestellt hat, dessen überragende Größe nur die ohnmächtige Furcht armseliger Konkurrenten bespötteln mag.

Otto Brahm.


*) Henrik Ibsen. Rosmersholm. Schauspiel in vier Akten. Deutsch von M. v. Borch. Berlin 1887. S. Fischer.
Publisert 20. mars 2018 11:00 - Sist endret 20. mars 2018 11:02