Peter Friedrich Siebold

Biografisk artikkel om Henrik Ibsen av Peter Friedrich Siebold i Illustrirte Zeitung i Leipzig 19. mars 1870 (No. 1394, s. 215–218).

Henrik Ibsen.

D.  Norwegens Name wurde vor ein paar Jahrzehnten schon oft mit großem Interesse in Deutschland genannt. Es war die Verfassung Norwegens, welche die Forscher der freien Institutionen beschäftigte, es war die wildromantische Natur Norwegens, welche sich in den Tönen Ole Bull’s, in den herrlichen Landschaftsbildern des Professors Dahl den Fremdlingen offenbarte und die letztern selbst nach der nordischen Küste zog. Dann kam das Jahr 1848, die Zeit des Ringens und des Kampfes in Deutschland. Freie Verfassungen entstanden und verschwanden, aber die Forschungen wandten sich den eigenen Angelegenheiten zu. Man hatte zu Hause genug zu studieren, genug zu verschmerzen, und man dachte wenig an das, was jenseits des Oeresund und des Kattegat liegt. Seit einigen Jahren hat man jedoch wieder angefangen, mehr an Norwegen zu denken. Die Bilder aus dem norwegischen Volksleben, die großartigen Scenen der norwegischen Landschaften, welche Tidemand’s und Gude’s Pinsel hervorzauberten, die Erzählungen aus den Bauernstuben der norwegischen Bergbewohner, durch welche Björnstjerne Björnson gerechtes Aufsehen in Deutschland und England erregte, die großartigen historischen Forschungen eines Munch und Keyser, die Sammlungen norwegischer Volksmärchen durch Asbjörnsen und Moe — dies alles lenkte wieder die Gedanken der deutschen Kunstfreunde, Lesewelt und Geschichtsforscher nach dem Norden.

Neben Björnstjerne Björnson, dem liebenswürdigen Schilderer des Eigenthümlichen des norwegischen Volkslebens, hat sich seitdem eine andere Größe erhoben, von Björnson weit verschieden, nicht so gefällig, nicht so phantasiereich wie er, aber ohne Zweifel großartiger, imposanter und tiefer; ein Dichter, dessen innerstes Schauen der Menschennatur ihn bisweilen den großen Dichtern aller Zeiten an die Seite stellt; wir meinen Henrik Ibsen.

Derselbe ist in Skien (im südlichen Norwegen) am 20. März 1828 geboren. Seine ersten Jünglingsjahre verflossen unter den wenig beneidenswerthen Verhältnissen eines Apothekergehülfen. Ein unwiderstehlicher Drang, zu lernen oder vielmehr zu schaffen, trieb ihn trotz aller hemmenden Umstände vorwärts, sodaß er bald ungeachtet Noth und Bekümmernissen aller Art sich (ungefähr 1850) unter der akademischen Jugend der Christiania-Universität befand. Schon damals hatte er mit einem dramatischen Gedicht debütirt, und bezeichnend für die ganze künftige Art seiner Dichtung war es, daß er einen Stoff wählte, welcher ein zerrüttetes Staats- und Gesellschaftsleben, die sinkende römische Republik, schildert. Es war der durch Sallust so wohlbekannte Catilina, der die Hauptfigur des Dramas bildete — aber welcher Catilina? — Nicht der elende, verworfene Wicht, welchen wir aus der Geschichte kennen, sondern ein ursprünglich edler, nur durch die Armuth und Zerrissenheit seiner Gegenwart sinkender Held. Das Stück war freilich unreif, aber es lag etwas darin, was später sich eine Bahn brechen sollte. In demselben Jahre hatte der berühmte Virtuos Ole Bull das norwegische Nationaltheater zu Bergen gestiftet; anstatt der dänischen Provinzschauspieler, die früher in Norwegen das dramatische Leben vertraten oder vielmehr mit Füßen traten, sollte jetzt die norwegische Sprache von der norwegischen Bühne ertönen, aber — und das war freilich ein schlimmes Aber — es existirte fast keine einheimische Dramatik, und man fühlte, daß eine nationale Scene ohne nationale Dramatik Unsinn war. Wo aber eine Idee sich als lebensfähig erweist, da finden sich auch immer die Träger derselben. Der erste, welcher sich in die Schranken stellte, wenn auch nicht der erste, welcher die Aufgabe vollständig löste, weil seine Reise erst später erfolgte, war Ibsen. Er hat als Director des jungen Kunstinstituts in einer Person den Theaterdirector mit dem Theaterdichter vereinigt, nachdem er in Christiania kurze Zeit mit zwei Studiengenossen eine Zeitung «Manden» (Der Mann) redigirt hatte. So entstanden nun Ibsen’s erste Arbeiten für die Bühne: das schon vor seiner Ankunft in Bergen geschriebene Drama «Kjämpehougen» (Das Hünengrab), «Jonsoksnat» (Die Johannisnacht), später «Fru Inger til Oesterad» (Frau Inger auf Oesterad) und «Gildet paa Solhaug» (Das Fest auf Solhaug). Die zwei letzten Arbeiten machten großes Aufsehen, obgleich der Dichter noch nicht seine eigenthümliche Richtung gefunden hatte. Er arbeitete noch nach Vorbildern, und «Das Fest auf Solhaug» erinnerte in seiner den altnordischen Volksliedern entlehnten Versification und Diction zugleich stark an des dänischen Dichters Henrik Hertz «Sven Dyrings Huus» (Sven Dyring’s Haus). Bald sollte es aber anders werden, und doch erwartete ihn noch ein gewaltiger Streit, ehe er zu dem Platze, den er jetzt einnimmt, sich emporschwingen sollte.

Im Jahre 1857 wurde Ibsen nach Christiania berufen, um daselbst das Directorium des seit 1851 errichteten Nationaltheaters zu übernehmen. In diesem Jahre machte Björnson sein Debut mit seinem kleinen ausgezeichneten Drama «Mellem Slagene» (Zwischen den Schlachten) und mit «Halte Hulda» (Die hinkende Hulda). Es war der bündige, kurze, tiefergreifende Stil der alten nordischen Sagen, welcher diesmal durch die Poesie zum Ausdruck moderner Ideen gemacht wurde, und als Ibsen ein paar Monate später sein großes Drama «Haermaendene paa Helgeland» (Die Recken von Helgeland) — Helgeland ist der nördliche Theil der norwegischen Küste — vollendete, hatte Ibsen denselben Griff wie Björnson gethan; es war aber jetzt nichts neues mehr. Man sah das Ibsen’sche Drama mit Vergnügen, aber man begeisterte sich nur für Björnson. Dieser hatte sich mit einem Schlage seinen Platz an der Spitze der jungen norwegischen Dichtung errungen. Ibsen trat gegen ihn in den Schatten, wiewol jedermann das bedeutendere Talent, womit Ibsen das altnordische Gepräge in moderne Tracht umgekleidet hatte, willig anerkannte. Doch war in der That dies auch nicht Ibsen’s bedeutendste Seite; noch schlummerte etwas tief in seinem Innern, was bei den trüben und gedrückten Umständen, in denen er damals in Christiania lebte, nicht zum Ausbruch kommen konnte. Das Theater, dessen Director er war, hatte trotz seiner wackern Bemühungen fallit gemacht. Er selbst war mismuthig, und die Arbeit wollte nicht recht gedeihen, während sein jüngerer Bruder in Apollo, Björnson, von Sieg zu Sieg vorwärts ging. Das, was Ibsen schrieb, wurde denn auch eine bittere Satire auf eine Gesellschaft, von der sich der Dichter nicht verstanden fühlte, auf eine Gesellschaft wie das damalige Christiania, das, für die ideale Seite des Lebens keinen Sinn, für die höhere und wahre Lebensaufgabe, wie der Dichter sie fühlte, keine Ahnung habend, sich einem behaglichen Materialismus unter dem großen Schlagworte eines gesunden Realismus mit hohem Selbstgefühl ergab. Diese Gesellschaft geiselte der Dichter fürs erste hinsichtlich der Liebe und Ehe, indem er zu zeigen suchte, wie die meisten Ehen unserer Zeit aus allen andern Beweggründen als denen der gegenseitigen Liebe geschlossen werden. Das Gedicht war kein Bühnendrama, es trug den Namen «Kjaerlighedens Komedie» (Komödie der Liebe). Der Erfolg war ebenso abnorm wie enorm. Er bestand theilweise in wüthenden Verwerfungsurtheilen: der Dichter habe sein Volk verletzt, er wäre kein Dichter, sondern ein Prediger der Immoralität. Man hatte die Satire misverstanden, obwol sie nicht miszuverstehen war. Der Dichter, welcher drei Jahre lang an der «Komödie der Liebe» gearbeitet, schritt nun rüstig zu neuen Werken und vollendete in sechs Wochen die herrliche Tragödie «Kongsemnerne» (Die Thronprätendenten, wörtlich die Königskeime). Waren es nur die bürgerlichen Kriege in Norwegen im 13. Jahrhundert zwischen König Hakon und dem Herzog Skule, die den Dichter zu dieser glühenden Charakterschilderung der zwei Prätendenten trieben? Oder bargen sich vielmehr hinter der Maske der fernen geschichtlichen Persönlichkeiten sehr nahe liegende Verhältnisse? War nicht der junge siegreiche König Hakon das Urbild eines Jünglings, welcher jüngst sich die Dichterkrone um die Stirn gelegt hatte? Und war der düstere Herzog Skule, der in sich noch unverstandene Riesenkräfte, ungeheuere Macht und innige Liebe barg, war er nicht das Vorbild des von seinem Volke in den Schatten gestellten Dichters? Wir wissen es nicht; jedenfalls nicht, ob es in dem Bewußtsein des Dichters lag, als er die Tragödie dichtete; aber daß ein bitteres Gefühl des erlittenen Unrechts und daneben ein Gefühl eigener aufsteigender Kraft die Feder in seiner Hand zu einem Schwerte schärfte — das wissen wir.

Im Frühjahre 1864 zog Ibsen mit einem von der norwegischen Regierung bewilligten Reisestipendium nach Süden. Ueber Kopenhagen, Berlin, Dresden, wo er schon auf einer kürzern Reise 1852 verweilt hatte, Wien, Triest und Venedig ging er nach Rom, wo er im Juni eintraf. Das herrliche Italien übte auch auf ihn seinen wundervollen Einfluß aus. Frisch, verjüngt, voll neuen Lebens sah er sich im ewigen Rom. Die Bitterkeit, mit welcher ihn die Ereignisse in der Heimat erfüllt hatten, schmolz wie Thau in der Morgensonne vor der wonnevollen Lebensfülle des südländischen Dolce far niente. Mit einigen nordischen Freunden verbrachte er den ersten Sommer in Genzano, im Albanergebirge, mit dem Gedichte beschäftigt, das ihn zwei Jahre später auf die Höhe der Berühmtheit stellen sollte. Zu Weihnachten 1865 erschien es unter dem Titel «Brand», ein dramatisches Gedicht, und zwar in Kopenhagen (Gyldendal’s Verlag). Der Erfolg war der allerglänzendste. «Brand» ist von solcher Intensität, daß es unmöglich ist, in wenigen Worten den Grundgedanken zu entwickeln. Kurz gefaßt, könnte man sagen, er sei darin enthalten, daß die Reinheit des Wollens die einzige Bedingung ist, unter der Geschlechter wie Individuen das Heil finden können. Die Liebe Gottes und der Menschen anrufen, ohne den wahren Willen, diese Liebe in einem reinen, gotterfüllten Herzen zu pflegen, ist nicht allein die größte Abgeschmacktheit, sondern geradezu die Grundsünde, eins mit dem Egoismus. «Brand» selbst ist der willensreine Mann, der aber in einer Zeit, welche nichts als den Egoismus und Materialismus anbetet, untergehen muß, weil er für solche Zeit zu rein, zu groß ist; und doch geht auch er als ein Mensch, fehlend und schwach wie wir andern, unter. Eins aber hat er im Tode gerettet: die Reinheit des Wollens, mit der er sich in Gottes Arme werfen kann, sicher, daß er nicht verstoßen werden wird. Das Erhabenste in «Brand» ist wol die Figur der Frau des Helden, Agnes, denn ein schöneres Bild der Weiblichkeit ist in der Poesie fast nicht geschaffen worden. «Brand» war nur die Lösung derselben Aufgabe, die sich Ibsen bereits in der «Komödie der Liebe» gestellt hatte, «eine satirische Anklage des Materialismus und der mangelnden Idealität» der Zeit ins Gesicht zu schleudern; aber wie es das erste mal vom Standpunkte der Liebe aus geschehen, so geschah es in «Brand» vom religiösen Standpunkte aus. Ein neueres Werk, «Per Gynt», ist auch in Rom geschrieben und zeigt uns dieselbe Idee wie die «Komödie der Liebe» und «Brand». «Per Gynt» ist der vollständige Gegensatz zu «Brand». War Brand der absolute Idealist, so ist Per Gynt der von allen andern Ideen als der seines Selbst verlassene Materialist, dem nur die eigenthümliche Gabe der Phantasie verliehen. «Per Gynt» zeigt, daß Ibsen sich sicher im Besitz seiner dichterischen Höhe fühlt, denn auch die meist phantastischen Sprünge, die bizarrsten Ideen — immer aber reich und poetisch — erfüllen das Werk und hüpfen wie lächelnde Faune um den ernsten Gedanken des Dramas.

Man kann von allen Arbeiten Ibsen’s sagen, daß sie eine Begrenzung haben, die jedoch den reinen Genuß derselben dem vernünftigen Leser nicht beeinträchtigt. Ibsen kann niederreißen, er weiß die tiefsten Räthsel des Lebens mit starker Hand ohne Schonung aufzustellen, er kann auf deine Brust zeigen und rufen: «Mensch, erkenne dich selbst in meinen Masken!» — aber selbst etwas Positives für die Lösung der großen Fragen leisten, konnte er bisjetzt nicht. Darum sieht die «Komödie des Lebens» so zerrissen aus. Ja, es scheint bisweilen, daß er sich wirklich gegen das Ideal selbst schleudern möchte, um in dessen Fall und Zerschmetterung die Lösung seiner Frage zu finden; darum ist Brand so hart gegen Fleisch und Blut, daß wir uns bisweilen versucht fühlen, dem Fleisch und Blut dem ernsten Reformator gegenüber recht zu geben. Nur in «Per Gynt» hat Ibsen versucht, eine Versöhnung hineinzubringen; er hat aber dadurch nur gezeigt, daß dies seine Sache nicht ist, daß er nur die Stimme, die in der Wüste ruft, sein soll, und daß er schon seine Aufgabe richtig erfaßt hat, wenn er sich gegen das Böse und Schlechte in der Welt mit Liebe zu allem Guten und Wahren in den Kampf wirft. Könnte er die Fragen zugleich lösen, die er aufstellt, er wäre nicht mehr Dichter, er wäre, was der Mann ist, dessen Persönlichkeit und Arbeiten sichtbar stark auf ihn gewirkt haben, er würde sein, was der dänische Philosoph Sören Kierkegaard war: kein Dichter, sondern ein Reformator.

Es gereicht dem norwegischen Reichstag zu großer Ehre, daß er das Verdienst des hochbegabten Dichters doch zuletzt zu würdigen verstanden. Nach dem lebhaften Erfolge des «Brand», welches Werk jetzt bereits in fünf bedeutenden Auflagen erschienen, beschloß die Nationalversammlung (Storthing), dem Dichter einen lebenslänglichen Jahrgehalt zu bewilligen, damit er seine Wirksamkeit, ohne gegen drückende Umstände kämpfen zu müssen, ruhig entfalten könne. Ibsen weilte, seit er Rom verlassen, einige Zeit in Dresden, dann in Stockholm, wo ihm eine Einladung von seiten eines Bevollmächtigten des Vicekönigs von Aegypten zugegangen war, der Einweihung des Suezcanals beizuwohnen, welcher Ibsen auch Folge geleistet hat. Er denkt später wieder nach Norwegen überzusiedeln, und da er noch im kräftigsten Mannesalter steht, so hat sein Vaterland — und wol auch Deutschland durch Uebersetzungen seiner Werke, welche, nebenbei gesagt, aber manche Schwierigkeiten bieten — hoffentlich noch viele Früchte seines genialen Geistes zu erwarten.

Neuerdings hat Ibsen wieder ein Drama «Der Bund der Jünglinge» (De Unges Forbund) vollendet und dem königlichen Theater in Kopenhagen überlassen, wo es mit großem Erfolg zur Aufführung gekommen ist. Auch in Christiania ist das Werk mehrfach bei überfülltem Hause gegeben worden. Bei den ersten Aufführungen machte sich neben ungeheuerm Applaus auch Misfallen bemerkbar. Die Geisel der Satire, welche Ibsen in diesem Lustspiel gegen das Tadelnswerthe in den norwegischen Verhältnissen sehr empfindlich schwingt, mochte, wie es auch bei seinen frühern Arbeiten erging, manchen wol gar zu unbequem treffen. In Stockholm wird nächstens «Kongsemnerne» in Scene gehen, welche Tragödie in Christiania zu den beliebtesten zählt und in mancher Beziehung stark an die neusten politischen Veränderungen in Deutschland erinnert.

Publisert 11. apr. 2018 15:14 - Sist endret 20. feb. 2023 10:04